Pfarrerin Sibylle Biermann-Rau arbeitet kirchliches Versagen im Dritten Reich auf / Vortrag in Dietersweiler

Von Gerhard Keck

Freudenstadt-Dietersweiler. Martin Luthers ehernes Denkmal hat sichtbare Schrammen abbekommen. Weite Teile der evangelischen Kirche mögen sie noch immer nicht recht zur Kenntnis nehmen – zu tief sitzt die Scham ob des Versagens vieler hochrangiger Repräsentanten zur Zeit des Terror-Systems im Dritten Reich. Zu diesem Schluss muss kommen, wer den kompakten Vortrag, gestützt von zahlreichen Nachweisen, von Pfarrerin Sybille Biermann-Rau aus Albstadt-Ebingen zum Thema "An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen" gehört oder ihr gleichnamiges Buch studiert hat.

Die Theologin sprach auf Einladung der Dietersweiler Frauenrunde Sophia, die dabei mit der örtlichen evangelischen Kirchengemeinde und dem Freudenstädter Schuldekanat kooperierte. Im Gemeindehaus fand sich eine stattliche Zahl Interessierter ein. Vom Aufruf zum Gedankenaustausch wurde reger Gebrauch gemacht.

Sybille Biermann-Rau möchte ihre Untersuchung, die ihr selbst erst richtig die Augen geöffnet hat, als "Anfrage" verstanden wissen: Wie konnte der Genozid an den Juden durch die Nazi-Terrorristen geschehen inmitten eines Landes der Reformation? Es geht ihr nicht darum, pauschale Schuldzuweisungen zu machen. Auch stellt sie die theologische Leistung des großen Reformators sowie dessen ungeheure Zivilcourage nicht in Abrede.

Was sich Luther allerdings mit seinen Schmähschriften geleistet hat, bleibt unfassbar, selbst unter Berücksichtigung einer gesellschaftlichen Stimmung, die auf den virulenten Antisemitismus seiner Zeit abzielt. Die tiefgreifende Ablehnung der Juden, die sich vor allem in den sieben Ratschlägen an die politische Obrigkeit manifestiert, stieß selbst beim Schweizer reformatorischen Mitstreiter Bullinger auf Ablehnung: Luthers Schriften von 1543 seien "sehr schmutzig geschrieben". Die Nazis lachten sich ob solcher Steilvorlagen ins Fäustchen, lieferte ihnen Luther doch quasi frei Haus Schein-Argumente für sich steigerende Schikanen und schließlich für den Holocaust. Luther wurde von ihnen schamlos instrumentalisiert, obwohl der Reformator niemals der Vernichtung der Juden das Wort redete. Dass die Deutschen Christen (DC) als Steigbügelhalter der braun-schwarzen apokalyptischen Reiter fungierten, kam diesen äußerst gelegen.

Sibylle Biermann-Rau vernachlässigte in ihren Ausführungen keineswegs die Versuche von aufrechten Christen, den staatlichen Henkern in den Arm zu fallen. Die historischen Materialien belegen, dass dabei viele ihr Leben dran gegeben haben.

Auch so manche Kirchenführung richtete flammende Appelle an die Staatsführung, dem Unrecht an den Juden Einhalt zu gebieten. Gleichwohl ließ sich das Mahlwerk der Vernichtung nicht anhalten.

Einzelne Landeskirchen und kirchliche Beschlüsse haben sich ab der Nachkriegszeit nach und nach von Luthers antijüdischen Äußerungen distanziert. Dennoch fehlt Biermann-Rau noch "eine prägnante und öffentlichkeitswirksame Distanzierung der EKD als Ganzes von Luthers Judenfeindschaft". Der Reformator selbst übte sich schließlich in Selbstkritik. Seine Schriften sollten ganz hinter der Bibel als Gottes Wort zurückstehen: "Gern hette ichs gesehen, das meine Bücher allesamt weren dahinden blieben und untergegangen."

Das Buch: Sibylle Biermann-Rau: An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen. Calwer Verlag Stuttgart. 2. Auflage 2014. 352 Seiten. Paperback mit Abbildungen. 14,95 Euro.