Der Angeklagte Mann aus einem Rottenburger Teilort zeigt sich vor Gericht kooperativ. Foto: Müssigmann

Odyssee endet für Mädchen in Freudenstadt. Mann aus Rottenburger Teilort schildert Lebenskrise.

Freudenstadt/Tübingen - Festnahme auf dem Marktplatz: Im Mai wurde ein mutmaßlicher Kindesentführer im Zentrum Freudenstadts von der Polizei geschnappt und das Mädchen befreit. Gestern begann der Prozess gegen den 51-Jährigen vor dem Landgericht Tübingen.

Der Angeklagte Mann aus einem Rottenburger Teilort zeigt sich vor Gericht kooperativ, erzählt bereitwillig: Wie er aufgewachsen ist, eine Familie gegründet hat und wie er im Job immer weiter aufgestiegen ist. Bis ihn die Kündigung seiner letzten Arbeitsstelle in ein tiefes Loch gestürzt habe. Selbstmordgedanken hat der Mann bei der Polizei als Motiv für die Tat angegeben.

Er habe gehofft, bei der Befreiung des Kindes erschossen zu werden. Die Staatsanwaltschaft geht jedoch davon aus, dass akute Geldnot das Motiv war. Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung habe wenige Wochen nach der Tat angestanden. Das Gericht wirft ihm erpresserischen Menschenraub und räuberische Erpressung vor.

Am 10. Mai hat er der 13-jährigen Tochter einer Unternehmerfamilie vor dem Elternhaus aufgelauert, hat ihre Hilfsbereitschaft beim Ausbauen eines Kindersitzes ausgenutzt, sie ins Auto gestoßen und ist losgefahren. Nach zwölf Stunden konnte ihn die Polizei nach einem Erpresseranruf aus einer Telefonzelle auf dem Freudenstädter Marktplatz festnehmen und das unverletzte Kind befreien.

Der Verteidiger schickte der Aussage des Angeklagten voraus, dass dieser im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg von seiner Depression geheilt worden sei und nun über teils irrationales Handeln berichten müsse, das er heute auch nicht erfassen könne. Seinen Antrag auf den Ausschluss der Öffentlichkeit hatte das Gericht abgelehnt.

"Mir war alles scheißegal"

Es ist ein Karriereknick, der den Mann aus der Bahn wirft, so schildert er es selbst. Als Logistikdirektor bei einer weltweit tätigen Firma, für die er von 2002 bis 2009 gearbeitet hat, habe er »viel Herzblut und Zeit investiert«. Wegen Veruntreuung von Geldern wird ihm gekündigt. Sein Lebensinhalt bricht weg. Nach etwa zehn erfolglosen Bewerbungen lässt er sich gehen. »Ich habe meine Körperhygiene vernachlässigt, habe in 24 Monaten 27 Kilo zugenommen«, schildert er. Gelebt hätten er und seine Frau von Mieteinahmen aus Immobilien. Je massiver ihn die Familie dazu gedrängt habe, sich Hilfe zu holen, desto widerspenstiger sei er geworden. »Ich war wie in Watte gehüllt, mir war alles scheißegal.« Drei Jahre lang.

Dabei war es nicht die erste Kündigung, die er bekommen hat. Der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann hatte sich als Tankstellenbetreiber versucht und war in seinem Berufsleben für insgesamt sechs Arbeitgeber tätig. Vier davon hatten ihm gekündigt.

Die Gründe haben meist damit zu tun, dass dem Angeklagten vorgeworfen wurde, sich einen Vorteil verschafft zu haben – etwa indem er Firmenwissen an ein Unternehmen weitergab, an dem er selbst beteiligt war. »Trotzdem haben sie immer weitergemacht, wie ein Stehaufmännchen, sagt einer der beiden Richter. Das Gehalt stieg sogar mit jedem Arbeitsverhältnis an.

Ab Sommer 2011 lassen ihn die Selbstmordgedanken nicht mehr los, erzählt er. Vom ehemaligen Arbeitgeber flattern Forderungen ins Haus. »Die wollten bis zu 650 000 Euro von mir.« Für seine Familie sei er in seinem Zustand nur noch »ein Klotz am Bein« gewesen. Nachts fährt er durch die Gegend, steht an den Bahngleisen. »Aber den letzten Schritt habe ich nie geschafft.«

Wie es zur Tat kam, wird beim nächsten Verhandlungstermin am Donnerstag, 13. Dezember, Thema sein. Das Mädchen wird unter Abwesenheit von einem Anwalt als Nebenklägerin vertreten.