"Wir müssen reden": Saskia Esken, SPD-Bundestagsabgeordnete. Foto: Archiv/Hopp? Foto: Schwarzwälder-Bote

Interview: Fragen nach den Ursachen für den Absturz der etablierten Parteien im Wahlkreis / Esken kündigt neue Formate an

Region. Nach den eklatanten Stimmverlusten der etablierten Parteien bei der Bundestagswahl drängen sich viele Fragen auf. Was läuft schief in der Politik und in der Diskussionskultur? Wir führten ein Interview mit den beiden alten und neuen Abgeordneten aus dem Wahlkreis, welche Erkenntnisse sie daraus ziehen. Beiden wurden die selben Fragen gestellt. Heute antwortet darauf Saskia Esken (SPD.

Frau Esken, die AfD hat im Wahlkreis 15 Prozent der Stimmen geholt, ist im Wahlkreis auf dem Papier zweitstärkste Kraft geworden. Sie sagten, sie hätten die Botschaft der Wähler verstanden. Wie lautet sie denn, die Botschaft?

Viel zu selten, aber schon seit vielen Jahren sagen uns die Leute auf der Straße, an den Türen, in den Netzwerken: Ihr habt den Blick auf unsere Lebenswirklichkeit verloren, ihr seht uns nicht, ihr hört uns nicht zu, ihr nehmt uns nicht ernst. Wir haben für die Sorgen und Nöte der Menschen auf politische Antworten gesetzt, die viel zu technokratisch und zu detailverliebt waren und viel zu wenig empathisch. Unsere Antworten haben viel zu wenig mit dem Leben der Menschen zu tun, auch wenn die dahinter liegenden politischen Konzepte richtig sein mögen. Wir Sozialdemokraten haben ja durchaus verstanden, dass der Wohlstand für alle eben nur eine statistische Wahrheit ist. Bei Menschen, die im Niedriglohnsektor, in Teilzeit und befristet arbeiten oder eine sehr kleine Rente erhalten, kommt davon nichts an. Die Reparaturen, die wir am Arbeitsmarkt und am Sozialsystem zuletzt vorgenommen haben, reichen bei weitem nicht aus, Grundlegendes an der sozialen Schieflage zu ändern. Die Lohnungleichheit wächst, die Kinderarmut wächst, die Altersarmut wächst, und das ist doch eine Schande in diesem reichen Land! Unser Wahlkampf für soziale Gerechtigkeit war insofern völlig richtig, aber man hat ihn uns nicht geglaubt. Und das hat mit den Reformen der Schröder-Jahre rund um Hartz IV zu tun. Je früher sich die SPD das eingesteht und bereit ist für grundlegende Veränderungen, desto besser. Dazu kommt der gesellschaftliche Wandel hin zu mehr Offenheit und Vielfalt, der digitale Wandel hin zu mehr Beteiligung, Vernetzung und Austausch, den wir in der Mehrheit begrüßen. Einigen Menschen geht das aber alles viel zu weit oder jedenfalls zu schnell. Manche von ihnen wollen nicht tolerant sein gegenüber allem und jedem. Sie haben ein Problem damit, Homosexualität als normal zu akzeptieren, Fremde willkommen zu heißen, Menschen mit Behinderung im Alltag zu integrieren. Weil diese Haltung nicht gern gesehen wird, haben manche sich aus dem Dialog mit der Politik und mit der Mehrheitsgesellschaft verabschiedet. Die sogenannte Alternative für Deutschland hat sich die negativen Gefühle dieser Menschen gegenüber Minderheiten, ihre aufgestaute Wut gegenüber der Politik und den Medien zunutze gemacht. Ich plädiere auch weiterhin für Offenheit und Vielfalt, und ich wehre mich gegen jede Diskriminierung von Minderheiten, aber: Wir müssen wieder mehr miteinander reden!

Haben Sie den Leuten zuletzt zugehört oder bewegten Sie sich beispielsweise im Wahlkampf ohnehin nur im Dunstkreis der eigenen Klientel?

Nicht nur im Wahlkampf, sondern auch in den Jahren dazwischen begegne ich vielen Menschen, beruflich und privat. Im Wahlkreis besuche ich Betriebe, soziale Einrichtungen, Vereine, Schulen. Ich spreche, ich frage, ich höre zu. Bei all diesen Gelegenheiten begegnen mir auch Menschen, die mir zustimmen, aber auch solche, die sich kritisch äußern oder kritische Fragen stellen. Es ist nicht der Dunstkreis der SPD, in dem ich mich bewege, aber es ist ein Dunstkreis von Menschen, die mit der Politik reden. Diejenigen, die sich aus dem politischen Diskurs verabschiedet haben, die treffe ich gar nicht mehr. Oder sie schweigen.

Weshalb sehen so viele Leute etwa in Musbach oder Lützenhardt keine Alternative zur AfD? Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit nähert sich der Vollbeschäftigung, es lebt kein einziger Flüchtling in Musbach.

Die brummende Wirtschaft kommt eben nicht bei allen an, viele empfinden die Verteilung des Wohlstands in unserem Land als ungerecht oder haben selbst schon ungerechte Behandlung erfahren. Zudem haben wir in den vergangenen Jahren Investitionen an der öffentlichen Infrastruktur vernachlässigt, haben staatliche Leistungen wie Bildung, Gesundheit und öffentliche Sicherheit kleingespart: Für all das war kein Geld da. Wenn jetzt Geld für "die Flüchtlinge" ausgegeben wird, finden das manche empörend. An den hohen Empörungsraten gerade in ländlichen Gebieten oder auch im Osten Deutschlands sieht man aber auch: Die Flüchtlinge sind für viele umso bedrohlicher und taugen umso besser als Sündenbock, je weniger man sie persönlich kennt.

Die SPD im Wahlkreis hat sie attackiert, die CDU ignoriert, beide haben Wähler verloren. War Ihr Umgang mit der AfD im Wahlkampf die richtige Strategie oder haben Sie sie damit nur noch stärker gemacht?

Diese sogenannte Alternative hat sich negative Gefühle, Sorgen und Ängste von Menschen zunutze gemacht und sie in Wut, in menschenfeindlichen Hass und diskriminierende Hetze umgemünzt. Ich habe deutlich gesagt, was ich davon halte, und da bleibe ich auch dabei. Die Medien legen nach und nach offen, wie eng vernetzt viele der AfD-Funktionäre mit alten und neuen rechtsextremen Bewegungen sind. Manch einer davon sitzt jetzt im Parlament. Unsere Strategie im Umgang mit der AfD wird dadurch nochmal auf eine harte Probe gestellt, aber sie wird sich nicht ändern. Mit den Menschen, die bei der Bundestagswahl ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, weil sie Sorgen und Nöte haben, Ängste und auch Wu t verspüren oder weil sie es "denen da oben" einfach mal zeigen wollten – mit denen müssen wir reden.

Im politischen Berlin dreht sich derzeit scheinbar alles nur um die Koalitionsfrage. Geht’s nach kurzem Wahl-Schreck gleich wieder zurück zur Tagesordnung?

Es ist ja wohl mehr als deutlich, dass die große Koalition abgewählt ist. Jede Partei muss für sich entscheiden, welche Konsequenzen sie aus diesem Ergebnis zieht. Die SPD hat sich entschieden, mit einem desaströsen Wahlergebnis von 20 Prozent in die Opposition zu gehen. Es hat in der Geschichte der Sozialdemokratie schon manches Hoch und Tief gegeben. Wir werden die Oppositionsjahre dazu nutzen, uns zu besinnen und uns nach innen und nach außen zu erneuern. Auch die Union hat massiv an Wählerstimmen verloren. Als stärkste Fraktion hat sie nun dennoch den Auftrag, eine stabile Regierung für unser Land zu bilden. Wir werden sehen, ob es einer Koalition aus Union, FDP und den Grünen gelingt, sich an die Bewältigung und Gestaltung der drängenden Aufgaben der Gegenwart und Zukunft zu begeben. Die Welt hört ja nicht auf, sich zu drehen. Deshalb werden wir in unserer Rolle als stärkste Oppositionsfraktion die Politik dieser Regierung sehr kritisch begleiten – eine Politik der sozialen Kälte wie zuletzt unter Schwarz-Gelb darf sich nicht wiederholen, und auch der Ausstieg aus dem Atomausstieg ist uns aus dieser Zeit noch deutlich in Erinnerung! Zudem werden wir das Verhalten der AfD in Parlament und Gesellschaft genau beobachten und jede Form von Hass und Hetze bekämpfen. Und wir werden auch weiterhin eigene, sozialdemokratisch geprägte Antworten entwickeln für Gerechtigkeit, Zukunft und Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Wie wollen Sie in den nächsten vier Jahren den Kontakt zum "Volk" halten, vor allem zu denjenigen, die Sie bislang offenbar nicht erreicht haben?

Das ist die wirklich spannende Frage: Wie kann es uns gelingen, wieder mit denen ins Gespräch zu kommen, die derzeit nicht mehr mit uns reden wollen? Ich will neue Gesprächsformate entwickeln, will mich mit meinen politischen Weggefährten der SPD in Milieus begeben, in denen wir nicht oder nicht mehr zuhause sind. Dazu gehören sowohl Formate vor Ort als auch solche in den sozialen Medien, denn gerade hier können wir Menschen erreichen, die die klassischen Medien nicht mehr oder kaum noch nutzen.

Zu den Parteiveranstaltungen und offiziellen Anlässen wie Empfängen kommen bevorzugt Ihre eigene Klientel und die örtlichen Größen aus Politik und Wirtschaft, die sich dann freut und artig Ihre Arbeit lobt. Ist diese Form der Basisarbeit noch zeitgemäß?

Auch wenn ich neue Dialogformen finden und verstärken will, bleiben die klassischen Formate und der Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft sinnvoll und notwendig. Ich erlebe dort keine Artigkeit, und es werden auch kritische Fragen und Anmerkungen vorgebracht und diskutiert. Den allermeisten Menschen gelingt es aber, sachliche oder gar persönliche Kritik vorzubringen und dabei einen wertschätzenden Umgang aufrecht zu erhalten. Was ich in den vergangenen Monaten an Beleidigungen, Pöbeleien und Drohungen in den sozialen Netzwerken erleben musste, das wünsche ich keinem Menschen, denn darüber kann man den Lebensmut verlieren.

Geht das im politischen Alltag überhaupt, Kontakt zu den Bürgern zu halten?

Ich bin jeden Tag und in vielen halbwegs freien Momenten d amit beschäftigt, Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern zu halten, Fragen zu beantworten und mich über meine Arbeit auszutauschen. So manches habe ich schon dazu gehört, wie intensiv ich mein Smartphone nutze, aber ehrlich: Ich spiele dann nicht. Ich kommuniziere. Um der Kritik zu begegnen, werde ich das Smartphone gerne öfter mal weglegen. Wer mich in den sozialen Netzwerken, per E-Mail oder SMS ernsthaft anschreibt, einen ernsthaften Kommentar hinterlässt, der bekommt auch eine ernsthafte Antwort. Damit mir das auch weiterhin gelingt, werde ich pöbelnde und beleidigende Kommentatoren konsequent blocken und strafbare Inhalte zur Anzeige bringen. Um alte Dialogformate vor Ort und im Netz aufrecht zu erhalten und neue zu erarbeiten, benötige ich die Unterstützung meines Büroteams, unserer Mitglieder und Freunde – und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich darauf einzulassen, denn: Wir müssen reden.

Die Fragen stellte Volker Rath