Klaus Endress, Präsident des Wirtschaftsverbands Industrieller Unternehmen. Foto: SB

Präsident des wvib warnt vor Selbstzufriedenheit: Deutschland ist wieder auf Weg zum Arbeitskostenweltmeister.

Freiburg - "Blicken wir einmal rund 20 Jahre zurück. Ein kurzes Stück Wirtschaftsgeschichte, dennoch eine bemerkenswerte Etappe. Der heutige wirtschaftliche Musterschüler Deutschland wurde damals von der renommierten Zeitschrift Economist als ›kranker Mann Europas‹ porträtiert. Ja, wir trugen die rote Laterne. Hohe strukturelle Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit bei jungen Menschen kennzeichneten das Bild. Schwindende internationale Wettbewerbsfähigkeit, massive Verlagerungen von Produktion und Arbeitsplätzen in Niedriglohnländer machten uns Sorgen. Stagnation war überall mit Händen zu greifen. Wir waren fett, steif und bequem geworden.

Heute scheinen wir von solchen Zuständen weit entfernt und sonnen uns in der Pole Position Europas. Die mittelständische Industrie in der ›Schwarzwald AG‹ reüssiert auf den Weltmärkten, die Arbeitslosigkeit ist auf einem absoluten Niedrigstand. Nie konnten mehr Menschen für sich selbst sorgen. Diesen hohen Leistungsstand haben wir gemeinsam erarbeitet. Wir haben erstens hervorragende Fachkräfte, innovative Unternehmen und mutige Entscheider. Zweitens hat ein ehedem verkrusteter Staat den Weg zur Schaffung von Arbeitsplätzen freigemacht und sich konsequent verschlankt. Umkämpfte Hartz-Reformen, längst überfällige Entbürokratisierung haben uns seit 2002 immer fitter und schlanker gemacht. Drittens haben die Gewerkschaften mit Lohnzurückhaltung für unser Beschäftigungswunder gesorgt. Unser Nachbar Frankreich hat dies nicht getan, und die hohe Arbeitslosigkeit im Elsass ist die sichtbare Konsequenz.

Unsere Fitnesskur war hart und bitter nötig. Dem Bürger bleibt inzwischen mehr Netto vom Brutto, die Sozialkassen sind etwas solider finanziert, unsere Jugend hat inzwischen Traumperspektiven und ist von der Industrie umworben. So soll es bleiben.

Ausgemachtes volkswirtschaftliches Glück kam hinzu. Seit ein paar Jahren putscht uns das ›dreifache Doping‹ aus (zu) niedrigem Ölpreis, (zu) billigem Geld und (zu) schwachem Euro mächtig auf. Die Industrie hat gleich dreimal gleichsam ›unverdienten Rückenwind‹. Wir können nicht wissen, wie lang uns diese Brise noch nach vorne trägt. Aber wir tun so, als könne uns nie mehr etwas passieren. Keiner kann sich mehr an den ›kranken Mann Europas‹ erinnern.

"Wenn es dem Ochsen zu wohl wird, geht er aufs Glatteis"

Wenn es dem Ochsen zu wohl wird, geht er aufs Glatteis, sagt der Alemanne. Unsere Fitness-Kur und ihre Anstrengungen sind längst vergessen. Gramm um Gramm setzt der Standort Fettpölsterchen an. Unser altes Problem mit den Arbeitskosten, bestehend aus Regulierung, Löhnen und Lohnzusatzkosten, kommt schrittweise zurück. Aber keiner will es sehen, zu süß schmecken die Pralinen, die Politiker aller Parteien und Gewerkschaft in ihre Programm-Schachtel legen.

Nur ein paar Beispiele: Mütterrente und Rente mit 63 haben Deutschland allein 2015 etwa neun Milliarden Euro gekostet und werden zukünftig noch teurer werden. Sigmar Gabriel (SPD) und Horst Seehofer (CSU) überbieten sich in Forderungen nach der Erhöhung des Rentenniveaus. Berlin verteilt sozialpolitische Geschenke, die einzelne Gruppen beglücken, dem Standort aber schaden. Steuerbelastungen, Bürokratie und Lohnzusatzkosten werden weiter wachsen, wenn es nach der großen Koalition geht. Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag haben Winfried Kretschmann (Grüne) und Thomas Strobl (CDU) wieder jede Menge nicht durch Steuereinnahmen gedeckte Ausgaben eingebaut.

Politik geht offenbar selbst im Boom nur auf Pump. Mit Nachhaltigkeit hat das nichts zu tun. Die Erosion ist längst messbar. Wir sind wieder auf dem Weg zum Arbeitskostenweltmeister. Die internationale Konkurrenz im verarbeitenden Gewerbe produziert um elf Prozent günstiger. Seit 2011 verschlechtert sich Deutschland bei den Lohnstückkosten wieder. Es geht bergab. 2015 zahlten die Arbeitgeber in der Metall- und Elektroindustrie im Schnitt 42,84 Euro pro Arbeitsstunde. In Italien liegt dieser Wert bei 28,85 Euro, in Tschechien bei 10,46 Euro und in Polen bei 8,49 Euro. Wenn die aktuellen Lohnrunden erneut weit oberhalb Inflationsrate und Produktivitätsfortschritt abschließen, wird das noch schlimmer. Wir haben kaum Inflation, wir haben kaum Produktivitätsfortschritt. Wenn der Verdi-Abschluss von fünf Prozent auch in der Industrie als Leitsatz dient, verteilen wir Unternehmens-Substanz und leben auf Kosten unserer Zukunft.

In der Schweiz haben wir gerade erlebt, wie ein Wechselkurs-Schock der gesamten Industrie den Schub nehmen kann. Eine Änderung bei Ölpreis, Zinsen oder Euro-Kurs muss und wird irgendwann kommen. Sie wird die deutsche Wirtschaft ins Mark treffen. Wenn unser liebgewonnenes Doping wegfällt, steht Deutschland untrainiert und behäbig da. Schon jetzt beobachten wir, dass die Unternehmen der ›Schwarzwald AG‹ vorsichtig werden und größeren Personalaufbau vor allem im Ausland vornehmen. Osteuropa gewinnt als preiswerte verlängerte Werkbank überraschenderweise wieder an Charme. Frankreich erkennt gerade, dass es ebenfalls die Hartz-Reformen braucht, die wir gerade an vielen Stellen wieder zurückdrehen. Müssen wir unseren alten Fehler wiederholen?

Wir stehen heute vor großen Herausforderungen. Die politische Krise Europas, exorbitante Staatsverschuldung auch in Deutschland bei Bund, Ländern und Gemeinden, Globalisierung, digitale Transformation, Unternehmensnachfolgen im Mittelstand, Fachkräftemangel. Verwenden wir das Doping, um unsere Kosten-Probleme zu lösen, und nicht um als ›Ochse aufs Glatteis‹ zu gehen."