Christian Streich. Foto: Seeger

Fußball: Christian Streich zum 100. Mal als Trainer auf der Bank beim Bundesligisten SC Freiburg.

"Rein!", brüllt Christian Streich quer über den Platz. Nochmal: "Rein!" Seine Stimme vibriert, der Körper bebt. Es scheint, als würde er am liebsten auf den Platz springen und den Ball ins Netz wuchten. Dabei ist es lediglich ein Einwurf, den Jonathan Schmid weit in den Strafraum des Hamburger SV werfen soll.

"Sein" Sportclub tut sich schwer. Streich sieht, dass der Spielfluss in der Mitte der zweiten Hälfte im Klein-Klein versiegt. Er muss Einfluss nehmen. Er muss – natürlich – er ist der Trainer. Aber er kann auch gar nicht anders. Viel zu leidenschaftlich ist der 49-Jährige bei der Sache, viel zu sehr ist er Teil des Spiels.

Und dieses Bundesligaspiel, es ist ein Besonderes. Denn gegen den HSV ist Streich zum 100. Mal Freiburger Chefcoach. Doch er denkt nicht daran, daraus etwas Außergewöhnliches zu machen.

"Alle haben es mit mir ausgehalten"

Nach dem Abpfiff, in den Katakomben des Schwarzwald-Stadions: Ist er glücklich über dieses Jubiläum? "Also wenn ich ehrlich sein soll, es ist Samstagabend, 18 Uhr, und am Dienstag spielen wir gegen Bayern München. Wir arbeiten jetzt und möchten gerne glücklich auf Bayern München blicken. Für den Rest ist keine Zeit." Diese Antwort scheint irgendwie typisch zu sein für Streich. Es geht ihm zumeist weniger um seine Person als vielmehr um die Mannschaft, den Sport, das nächste Spiel.

Doch rückblickend sagt er: "Wir haben jetzt 100 Spiele in dieser Konstellation gemacht, mit all den Menschen, die da arbeiten. Alle haben es mit mir ausgehalten, die 100 Spiele, und kommen immer noch ins Trainerbüro und haben Freude. Bundesligaspiele haben wir auch noch, Europapokal haben wir auch mal gespielt. Viele Spieler sind gewechselt, weil dann die anderen kamen mit dem Geldbeutel. Auch gut, wir haben dann Geld bekommen. Jetzt wollen wir ein Stadion bauen. Es ist nicht alles schief gelaufen." So schwingen doch ein klein wenig Freude, zumindest Zufriedenheit, und vielleicht sogar ein bisschen Stolz in seinen Aussagen mit.

Eine Stunde vor Anpfiff gegen Hamburg. Der gelernte Industriekaufmann, der mit 25 Jahren das Abitur nachholte und ein Lehramts-Studium der Germanistik, Sportwissenschaft und Geschichte erfolgreich abschloss, läuft durch das Stadion. Eine Frau ruft: "Christian". Er lächelt, winkt zurück. Nach außen dringt keine Anspannung.

Streich tigert durch seine Coaching-Zone

60 Minuten später ist das ganz anders. Streich verbringt das 100. Spiel, wie auch die meisten anderen zuvor, nur sehr selten auf der Bank. Vielmehr reizt er die ihm zugedachte Coaching-Zone in Gänze aus. Er tigert auf der Linie entlang. Hält Rücksprache mit seinen Mitstreitern auf der Bank. Schickt seine Spieler an klar bestimmte Stellen des Platzes. Mit Worten, mit Händen, mit seinem gesamten Körper.

Eine emotionale Persönlichkeit wie Streich polarisiert. Manches wurde ihm schon vorgeworfen – mal mehr, mal weniger berechtigt. Man denke nur an den Disput mit dem früheren Trainer des 1. FC Nürnberg, Gertjan Verbeek, in der vergangenen Saison.

Doch vollkommen egal, wie man zu Streich stehen mag. Er begegnet einem mit großer Authentizität. Diese Echtheit macht den Freiburger Trainer durchaus besonders, sie schafft Identität. Und genau diese ist seit Streichs Amtsantritt auch auf dem Platz und im gesamten Umfeld zu sehen.

Dass Streich und der SC Freiburg gut harmonieren, nimmt dabei nicht Wunder. Seit knapp 20 Jahren arbeitet Streich für den SC, zunächst als Jugendtrainer, dann als Teil der sportlichen Leitung der Freiburger Fußballschule. Seit Sommer 2011 war er Co-Trainer an der Seite seines Vorgängers auf dem Cheftrainerstuhl, Marcus Sorg. Streichs Assistent Lars Voßler ist ebenfalls seit Jahren im Verein.

Sportlich ausgeglichene Bilanz

Die sportliche Bilanz der zurückliegenden drei Jahre fällt mit 32 Siegen, 32 Unentschieden und 36 Niederlagen quasi ausgeglichen aus und ist im Vergleich zur größtenteils finanzstärkeren Konkurrenz positiv zu bewerten. In der zweiten Saison unter seiner Leitung qualifizierte sich der SC sogar für den Europapokal. Ein herausragender Erfolg, gerade für einen Verein, der sich allzeit dem Kampf gegen den Abstieg verschrieben hat. Streichs Anteil daran macht auch die Auszeichnung zum zweitbesten Trainer des Jahres deutlich.

"Schauen wir mal, ob am Ende der Saison drei Teams hinter uns stehen." Es klingt lax, wie diese Worte über Streichs Lippen kommen. Dabei ist sich der Cheftrainer freilich des Ernstes der Lage vollkommen bewusst. Bundesligafußball im Breisgau scheint nach wie vor ein Geschenk, sicher aber das primäre Ziel zu sein.

So verfiel im Umfeld auch in der Europapokalsaison niemand der Illusion, die Zukunft des SC werde regelmäßig auf der internationalen Bühne zu beobachten sein. Vielmehr zeigte die zusätzliche Belastung für die Spieler die Grenzen des derzeit Machbaren auf.

Ein letzter Blick auf das Jubiläumsspiel gegen Hamburg. Es endet 1:1. Doch bis dahin versucht Streich unermüdlich, den Verlauf zu bestimmen. Er sucht das Gespräch mit dem vierten Offiziellen. Selbst die Balljungen ermuntert er, sie mögen sich doch beeilen, den Ball zu einem seiner Spieler zu werfen.

Nach dem Abpfiff steht Freiburg weiter auf dem 15. Tabellenplatz. "Wir sind nicht abgeschlagen. Aber wir müssen bis zum Schluss kämpfen", sagt Streich mit sicherem Blick. "Und das werden wir tun." So geht das seit 100 Spielen. Ein Ende ist nicht in Sicht.