Franz Jung auf dem Balkon eines illegalen Quartiers 1919, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Foto: Edition Nautilus

Franz Jung war Dada-Aktivist und Expressionist, Revolutionär, Unternehmer und Schriftsteller, Börsenjournalist und Bohemien. Er schrieb etwa 30 Romane, ein halbes Dutzend Theaterstücke, Hunderte Zeitungsartikel.­ Vor 50 Jahren starb er in Stuttgart.

Stuttgart - Der 50. Todestag eines Autors ist im Erinnerungsgeschäft nur dann etwas wert, sofern er zum Kanon der guten Literatur gehört. Franz Jung gehört nicht dazu, er taucht auch nicht deshalb auf, weil er auf seinem desillusionierenden Weg nach unten am 21. März 1963 in Stuttgart starb, wo ihn Bewunderer und letzte Freunde auf dem Neuen Friedhof in Degerloch begraben haben. Franz Jung ist einer jener vergessenen und wohlweislich verdrängten Schriftsteller, die mit ihrem Leben für ihr Werk bürgen.

So einer, und es gibt einige tolle Leute zwischen 1900 und 1950, den deutschen Katastrophenjahrzehnten, schmeichelt nicht der bürgerlichen Baumelseele; er rebelliert, er attackiert; er greift ins Leben und wirft es aufs Papier. Er experimentiert mit Formen und findet eine Sprache für befreite literarische und gesellschaftliche Möglichkeitsverhältnisse. Leute wie Erich Mühsam, Gottfried Benn, Raoul Hausmann, Gustav Landauer, Carl Einstein, Kurt Tucholsky, Mynona, Alfred Döblin zählen dazu.

Der Nervenarzt Döblin, bis heute geflissentlich unterschätzt, diagnostiziert 1913 in Herwarth Waldens expressionistischer Zeitschrift „Der Sturm“, was hundert Jahre später im Kern noch trifft: „Ich behaupte, jeder gute Spekulant, Bankier, Soldat ist ein besserer Dichter als die Mehrzahl heutiger Autoren. Die Prosaautoren (. . .) erschließen die Welt nicht mittels neuer, strenger, kaltblütiger Methoden, sondern kauen unentwegt an ,Stoffen‘ und Problemen ihrer inneren Unzulänglichkeit.“ Für Döblin ist Dichten „eine öffentliche Angelegenheit“. Womöglich sähe die deutsche Literatur des 21. Jahrhunderts anders aus, wäre sie sich ihrer riskanten, radikalen Vergangenheit bewusst. Das Leben schreibt mit.

Poesie der Rohheit

„Das Trottelbuch“, Jungs erstes Buch, erschien 1912. Lutz Schulenburg und Hanna Mittelstädt, die Anhänglichen von der Edition Nautilus, haben zum 50. Todestag eine schmucke Ausgabe des frühexpressionistischen Werks herausgebracht. Sexualisierte junge Frauen, durch Alkohol brutalisierte Typen in sadomasochistisch aufeinander bezogenen Abhängigkeitsverhältnissen gehen sich an die Gurgel, schlagen sich ins Gesicht und wissen nicht, ob aus Liebe oder Hass.

Flüche, Schreie, die Sprache ist dicht. Poesie der Rohheit. Hohes Tempo, kaltblütiger Satzbau. Schreiben ist Aktion. Der neue Ton wird gehört. „Nur Sie können noch auf Erden zwei große Flügel tragen und Städte schützen und gut sein“, schreibt die Dichterin Else Lasker-Schüler an Jung.

Jung, 24, ist unfähig, dauerhafte menschliche Beziehungen einzugehen; die Familie, Hort der Beschädigungen und der Schmerzen, hat seine Psyche tätowiert. 1961 erscheint sein letztes Buch, „Der Weg nach unten“, Jungs Autobiografie, so schonungslos und kalt gegenüber allem und jedem, am brutalsten ist er zu sich selbst, dass es einen friert. In späteren Auflagen heißt sie „Der Torpedokäfer“. Ein Torpedokäfer ist das Insekt, das gegen eine Wand anfliegt, immer wieder, das hofft, eine Öffnung nach drüben zu finden, das abprallt, abstürzt und sich aufrafft, um wieder gegen die Wand zu fliegen.

1988 erschien „Der Weg nach unten“ im Rahmen der 14 Bände umfassenden Gesamtausgabe. Verlagsempfehlung: „Die rasante Chronik eines Menschen zwischen den Mühlsteinen der Mächte, geschrieben gegen die Scheinwelt des deutschen Opportunismus und die uferlose politische Lüge. Nichts wird ausgeblendet, beschönigt oder durch falsche Rücksichtnahmen zugedeckt – dies ist es, was Jungs Lebensbericht zu einem einzigartigen Zeugnis über die Hintergründe des katastrophalen Zusammenbruchs einer Epoche macht.“

Börsenjournalist und Spartakist zugleich, Bohemien und revolutionärer Aktivist

Stenografisch verkürzt, war Jung, 1888 in Neiße, Oberschlesien, geboren, Börsenjournalist und Spartakist zugleich, Bohemien und revolutionärer Aktivist. Er ist Mitinitiator der Berliner Dada-Bewegung und nimmt an den revolutionären Kämpfen nach 1918 teil; er kotzt ab, als die Sozialdemokratie 1918/19, kaum an der Macht, die Revolutionäre, die nicht mit den Reaktionären paktieren, hintergeht. Er ist an der Entführung eines Fischdampfers nach Murmansk in der Sowjetunion beteiligt. Er ist Wirtschaftskorrespondent, in Berlin und Prag im Widerstand, in Genf, Wien und Budapest im Untergrund. 1944 Flucht nach Italien, 1947 Emigration in die USA, Wirtschaftsjournalist in New York und San Francisco. Ende der fünfziger Jahre Rückkehr nach Europa. BRD.

Jungs Gefängnisse: 1915 Spandau, 1920 Breda, 1921/22 Cuxhaven, Hamburg, Fuhlsbüttel, 1936/37 Berlin, 1944 Budapest (in den Händen der faschistischen Pfeilkreuzler-Bewegung), 1945 Lager in Bozen. In Spandau betreibt er Meditation, Gewissenserforschung. Nutzt die Zeit für Übungen, Selbstdisziplinierungen. Er studiert die Evangelien, Thomas von Aquin, Nietzsche, Max Stirner, Spinoza, Trivialromane, die Psychoanalyse. Der Slawist Fritz Mierau, der den Deutschen die russische Moderne vermittelt, Werk und Leben von Franz Jung erschlossen hat, gab dessen „Spandauer Tagebuch“ heraus. „Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham – & etwas Kostbares“, heißt es auf Seite 1.

Franz Jung hat 30 Bücher geschrieben, Romane, Erzählungen, fast ein Dutzend Theaterstücke, Radio-Features, Hunderte von Zeitungsartikeln. Sie gehören „zum menschlichen Reservefonds, aus dem sich die Bemühungen um erneuernde Perspektiven herauskristallisieren“, sagt Jungs Verleger Lutz Schulenburg. „Ein Reservoir, das jeder Einzelne für sich erschließen kann, um die eigenen Kräfte zu mobilisieren.“

Jungs Autobiografie erzählt vom Chaos des 20. Jahrhunderts. Autobiografien haben eine andere Sichtweise als die Geschichtsschreibung. Es ist eine Geschichte von unten, wie sie in „Geheimnis und Gewalt“ von Georg K. Glaser, in Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“, in Walter Mehrings „Die verlorene Bibliothek“ gegenwärtig ist. Die von Jürgen Roth redigierte Autobiografie von Peter O. Chotjewitz, „Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß“, knüpft auf ihre Weise, im Sinne Jungs, daran an. Man sieht, wie das schlechte Alte das angeblich Neue durchdringt. Auch das ist ein Schritt auf dem Weg in die Desillusionierung. Ein Verräter war Franz Jung nie.