Kann ihre Partei eine Kommune führen? Auf der Front National von Marine Le Pen lastet ein Erwartungsdruck. Foto: dpa

Im nordfranzösischen Hénin-Beaumont hat erstmals ein Kandidat des rechtsradikalen Front National auf Anhieb das Rathaus erobert. Nun steht die Partei von Marine Le Pen vor einer ernsten Bewährungsprobe.

Hénin-Beaumont - „Unsere Stadt ist jetzt weltberühmt!“ Der pensionierte Postbote Jean-Michel Gigney sagt es mit einer Mischung aus Verlegenheit und Ungläubigkeit. In seinem Ausruf schwingt ein wenig Genugtuung über die große Aufmerksamkeit für Hénin-Beaumont mit, das sich sonst von der ganzen Welt und sogar vom eigenen Land vergessen fühlt.

„Das ist ein Warnschuss. Mal sehen, was die Politiker daraus machen“, sagt Gigney, der im Bistro „Au Coq Lillois“ in der Nähe des imposanten Rathauses von Hénin-Beaumont einen Kaffee trinkt. Früher saß er selbst für die Linke im Stadtrat. Trotzdem schockiert es ihn nicht, dass nun die Ultra-Rechte an die Macht kam.

Journalisten aus der ganzen Welt interessieren sich für den 27 000-Einwohner-Ort, nachdem hier bei den französischen Kommunalwahlen Ende März erstmals bereits im ersten Wahlgang mit der absoluten Mehrheit ein Kandidat des rechtsnationalen Front National zum Bürgermeister gewählt wurde. 6006 Stimmen erhielt Steeve Briois – das sind 50,26 Prozent.

Arbeitslosenquote liegt bei 18 Prozent

Er verschaffte damit der Parteichefin Marine Le Pen einen großen Triumph, die den Front National lokal verankern will. Zwar fand die Partei nur in einem Bruchteil aller französischen Gemeinden genügend Kandidaten für eigene Wahllisten, wodurch sie hochgerechnet auf das ganze Land nur insgesamt 6,84 Prozent der Stimmen erhielt. Doch immerhin stellt sie künftig 1200 Gemeinderäte und gewann elf Rathäuser. Darunter das von Hénin-Beaumont im Regierungsbezirk Pas-de-Calais, einem der ärmsten Frankreichs.

Ende 2012 eröffnete hier der „Louvre-Lens“, eine Außenstelle des berühmten Pariser Kunstmuseums auf dem Gelände einer ehemaligen Steinkohle-Zeche. Mit der Präsentation von Meisterwerken unter anderem von Delacroix oder Rembrandt soll die Region aufgewertet werden. Denn diese hat sich vom Niedergang der Kohle-, Stahl- und Textilindustrie, der in den 70er Jahren einsetzte, nicht erholt.

In Hénin-Beaumont liegt die Arbeitslosenquote bei 18 Prozent, eine Mehrheit der Bürger zahlt mangels Einkommen keine Steuern, die Stadt ist hoch verschuldet. „Immerhin haben wir ein paar Kilometer von hier den größten Auchan-Supermarkt Europas“, verweist Jean-Michel auf das Mega-Einkaufszentrum als eine der wenigen Attraktionen in der Gegend.

Region von Korruptionsaffären geprägt

Mit einer Kehrseite: Das beschauliche Städtchen mit seinen Backsteinhäusern und dem mit Blumenbeeten umrahmten Kirchplatz verödet noch mehr. Läden schließen, es fehlt an Perspektiven. Briois hat versprochen, sie zu geben: Dank Video-Überwachung will er den Bürgern das Gefühl der Unsicherheit nehmen, die Steuern senken, Renovierungsprojekte anstoßen. Wenn auch aus Budgetgründen nicht vor 2015.

„Eine neue Ära“ kündigte Marine Le Pen an. 2007 hat die Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen beschlossen, aus Hénin-Beaumont ihre lokale Basis zu machen, verlegte sogar ihren Wohnort hierher und verpasste bei den Parlamentswahlen 2012 nur knapp ein Abgeordnetenmandat. Wenn ihre Partei ausgerechnet aus dieser traditionellen Bastion der Sozialisten das Symbol für ihren politischen Bedeutungszugewinn macht, dann liegt das auch an den Korruptionsaffären der Sozialisten in der Region, wo die bürgerliche Rechte nie Fuß fassen konnte und als Opposition faktisch ausfiel.

2009 wurde die Wahl des damaligen sozialistischen Bürgermeisters Gérard Dalongeville annulliert, nachdem ihn ein Gericht wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zu vier Jahren Haft und einer Geldstrafe von 50 000 Euro verurteilt hatte. Ein ausgeklügeltes System der Vetternwirtschaft kam ans Licht. Weil er in Berufung ging, trat Dalongeville aber erneut an, was der Linken jede Glaubwürdigkeit nahm.

„Das Pas-de-Calais wurde geprägt von vielen Korruptionsaffären“, sagt Pierre Mathiot, Politologe in Lille, der Hauptstadt der Region. „In Hénin-Beaumont konzentrierten sich die Skandale.“

Neuer Rathauschef setzt auf Pragmatismus

Das machte es zur idealen Kulisse für Marine Le Pen, die ihren Erfolg auf der allgemeinen Politikverdrossenheit vieler Franzosen aufbaut und sich als Alternative für die Volksparteien präsentiert. Doch die Bürgermeister des Front National müssen künftig den Beweis antreten, dass sie auch Verantwortung übernehmen und professionell verwalten können. Die Erfahrungen mit ultrarechten Rathaus-Chefs in mehreren südfranzösischen Kommunen in den 90er Jahren gelten als katastrophal.

Nun steht die Bewährungsprobe für die Partei Le Pens an, die bei der Präsidentschaftswahl 2017 ihr letztes Ergebnis von 17,9 Prozent der Stimmen noch verbessern will. Gerade auf Steeve Briois lastet daher ein hoher Druck. Er verspricht, „pragmatisch statt ideologisch“ zu regieren. Der 41-jährige Generalsekretär des Front National stammt aus der Region, ist der Enkel eines Bergbauarbeiters, er engagiert sich seit 20 Jahren politisch und gilt als bekannt, sogar beliebt. „Steeve ist kein Fanatiker und auch kein Rassist“, erklärt Anne, eine Wählerin, die ihren Nachnamen nicht verraten will. „Er hat sogar arabische Freunde.“

Der leutselige und redegewandte Briois gehört zu jener jüngeren Garde der Partei, mit deren Hilfe Le Pen deren Modernisierung und „Entdämonisierung“ betreibt: Sie distanziert sich von radikalen Aussprüchen, verbietet jede Nazi-Symbolik und droht denen mit Klagen, die den Front National als „rechtsextrem“ bezeichnen. Inzwischen erscheint er einer Mehrheit der Franzosen laut Umfragen als „eine Partei wie die anderen“.

Im Rathaus herrscht ein „ungutes Klima“

Dass er vor einigen Monaten in einem Buch als homosexuell geoutet wurde, war Briois zwar nicht recht, hat ihm aber auch nicht geschadet. Einen ersten Skandal hat er aber trotzdem bereits provoziert, indem er die „Liga der Menschenrechte“ aus dem Rathaus geworfen hat, die dort bislang untergebracht war, ohne Miete zu bezahlen. Ihre Subventionierung stoppte er mit der Begründung, es handle sich um eine linksextreme, politisierte Vereinigung.

Durch die Umbrüche herrsche unter den Mitarbeitern im Rathaus ein „ungutes Klima“, sagt der Gewerkschaftsvertreter Philippe Thibaut: „Während manche sich plötzlich offen als Front-National-Wähler zu erkennen geben, fürchten Parteigegner Folgen für ihren Arbeitsplatz.“ Doch Briois hat versprochen, keine „Hexenjagd“ zu betreiben.

Auch international ist er um ein gutes Image bemüht: Nachdem zwei belgische Kleinstädte ihre Partnerschaften mit französischen Gemeinden auf Eis gelegt haben, seit dort Bürgermeister des Front National regieren, will er bald in die Ruhr-Stadt Herne fahren, mit der Hénin-Beaumont seit 60 Jahren im Austausch steht.

Ob er dort willkommen ist? Dem Rathaus zufolge wird noch um eine offizielle Haltung gerungen: Am 29. April soll der Ältestenrat darüber entscheiden, wie man künftig mit dem neuen Partner umgeht, der sich so gerne „entdämonisieren“ möchte.