Fotografie von Hans Gunter Flieg aus dem Jahre 1956 Foto: Museum

Brasilien, so schwärmte der Stuttgarter Philosoph Max Bense Anfang der 1960er Jahre, sei „die bedeutendste Zivilisation in den Tropen“. Bense begriff die seinerzeit junge Architektur und junge Fotografie als Signale des Aufbruchs.

Brasilien, so schwärmte der Stuttgarter Philosoph Max Bense Anfang der 1960er Jahre, sei „die bedeutendste Zivilisation in den Tropen“. Bense begriff die seinerzeit junge Architektur und junge Fotografie als Signale des Aufbruchs.

Berlin - Brasilia! Lockruf der klassischen Moderne für Architekten und Tragwerksplaner bis in die Gegenwart. Weit auskragende Dächer, freie, sinnliche Kurven – mit seiner Architektursprache rang der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer dem als spröde und hart angesehenen Material Stahlbeton eine bis dahin nie gesehene optische Weichheit ab.

1907 in Rio de Janeiro als Nachfahre deutscher Einwanderer geboren und in seinen Gestaltungen durch den Bauhaus-Architekten Le Corbusier (1887–1965) beeinflusst, stammten alle öffentlichen Gebäude Brasilias, die in den Jahren 1957 bis 1964 gebaut wurden, von Niemeyers Reißbrett. Als Grundriss hatte sich der katholische Brasilianer – von 1957 bis 1960 als Chefplaner des staatlichen Bauamtes tätig – für ein Kreuz entschieden.

Doch die Anziehungskraft Brasiliens in den Jahren vom Zweiten Weltkrieg bis zum Beginn der brasilianischen Militärdiktatur erfasste nicht nur die Architektur. Auch die bildenden Künste, die Musik und der Film profitierten vom Modernisierungsschub, den die boomende Wirtschaft ausgelöst hatte. Der Philosoph Max Bense (1910–1990), wirkungsmächtiger Professor an der Universität Stuttgart, hat nach mehreren Besuchen in Brasilien von der Aufbruchstimmung des Landes geschwärmt. Brasilien, so Bense, sei „die bedeutendste Zivilisation in den Tropen“.

Gewaltiges urbanes Projekt der Moderne

Kritischer sah Vilém Flusser das gewaltige urbanistische Projekt der lateinamerikanischen Moderne. Was für Bense ein Produkt der „brasilianischen Intelligenz“, ein System, konsequentes Gesamtdesign und visuelles Erlebnis war, tadelte der 1940 aus Prag nach Brasilien emigrierte Kommunikationswissenschaftler als „maßlosen Apparat“.

Eine Maschine, die den Typus des „Funktionärs“ hervorbringt und begünstigt. Nicht zufällig war die politische Geschichte dieser Jahrzehnte vom Hin und Her zwischen Demokratie und Autoritarismus bestimmt, von einer Folge Staatsstreichen (1930, 1937, 1945, 1964). Niemeyer, Kommunist, emigrierte 1960, Flusser 1972. Einig aber waren sich Bense und Flusser: Brasilia verweist als urbanes Projekt auf die Stadt der Zukunft.

Die Avantgarde wurde von der Fotografie begleitet und somit dokumentiert. In „Brasiliens Moderne – Fotografien von 1940 bis 1964“ werden Arbeiten von Thomaz Farkas aus Ungarn, Marcel Gautherot aus Frankreich, José Medeiros aus Brasilien und Hans Gunter Flieg aus Deutschland gezeigt. Farkas, Gautherot und Flieg waren – aus unterschiedlichen Gründen – aus Europa nach Brasilien eingewandert. Es ist also auch der kosmopolitische fotojournalistische Blick, der das Betrachten in den vier Abteilungen des Museums für Fotografie so interessant macht. Gautherot (1910 –1996) sagte am Ende seines Lebens: „Die Fotografie erwuchs vor allem aus meiner Sehnsucht zu reisen.“

Fremdes zog ihn an: Fauna, Flora und der Mensch im Amazonasgebiet, die faszinierende Grafik der Segelflächen von Fischerbooten in Belém sprechen ihre Sprache. Er zeigt katholische Frömmigkeit und afrikanische Rituale und dann Brasilia: Einrüstungen, Stahlbetonverschalungen und die pure Schönheit der späteren Architektur-Ikonen.

Als Achtjähriger gab es eine Kamera als Geschenk

Farkas’ (1924– 2011) Lust am Fotografieren ist familiär bedingt. Als der Sohn acht Jahre alt war, schenkte ihm der Vater eine Kamera. Schon in Ungarn hatte die jüdische Familie mit fotografischen Artikeln gehandelt. 1936 überflog der Zeppelin São Paulo (mit ihm war auch Le Corbusier einige Male nach Brasilien gereist); Farkas dokumentierte. Legendär sind seine Licht-Schatten-Porträts und das Spiel aus Linie und Volumen.

Flieg (geboren 1923), als deutscher Jude mit noch nicht einmal 17 nach Brasilien geflohen, wird früh zum professionellen Fotografen. Eines seiner ersten Motive ist die Baustelle der Avenida Prestes Maia in São Paulo. Das unfertige São Paulo scheint seine Identifikation mit dem, was noch wächst, zu erleichtern. Heute leben insgesamt 3,5 Millionen Menschen in Brasilia. Die Metropolregion ist von sozialen Spannungen geprägt. Trotzdem erklärte die Unesco das Modell der architektonischen Moderne 1987 zum Weltkulturerbe. Pritzker-Preisträger Oscar Niemeyer indes distanzierte sich 2001 in einem Interview: „Dieses Experiment ist nicht geglückt.“

Doch die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes lenkt erneut die Aufmerksamkeit Europas auf Brasilien. Kurz vor der Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr und den Olympischen Spielen 2016 ergreifen junge Architekten die Chance, erstmals seit Niemeyer das Land entscheidend zu prägen. Auch das mag ein Grund sein, warum die Berliner Ausstellung vor allem junge Menschen anzieht.

Museum für Fotografie, Staatliche Museen zu Berlin, Jebenstraße 2, Nähe S- und U-Bahn-Haltestelle Zoologischer Garten.