Hassan, Sahel und Abdul (von links) beim Intensivkurs in Hohenheim Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Zigtausend Menschen sind in den vergangenen Monaten neu ins Land gekommen. Wie leben sie in der neuen Heimat – und wo? Unsere Autoren begleiten drei junge Syrer in einem Langzeitprojekt bei ihren ersten Schritten in Deutschland.

Stuttgart - In ihrer Vorstellung sah Deutschland ganz anders aus. Von menschenleeren Straßen hatten sie gehört und davon, dass alles hier ein bisschen farbloser sei als zu Hause in Syrien. Deutschland, das war für sie eine vage Idee im Kopf, eine, die von Sicherheit und Freiheit erzählte, von freundlichen Menschen und guter Bildung.

Das Bild hat sich geändert, seitdem Sahel, Abdul und Hassan vor gut einem Jahr in Stuttgart aus dem Zug gestiegen sind. Sie haben gelernt, dass die Straßen hier nicht menschenleer sind, dass Deutschland wunderschön grün sein kann – und hilfsbereit. Sie haben aber auch erfahren, dass manche Menschen ihnen hier mit Skepsis begegnen, dass Integration nicht einfach ist, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht.

Seit der Ankunft ist viel passiert. Zwischen dem heißen Tag am Stuttgarter Hauptbahnhof und heute liegen viele Momente des Hoffens und des Bangens, der Ungewissheit und des Anpackens. Wir werfen einen Blick auf das erste Jahr und lassen die Neubürger Bilanz ziehen. Es ist eine Geschichte von Ankunft und Ankommen – die Geschichte von Abdul, Hassan und Sahel.

Anfang 2015. Die drei beginnen ihre Flucht. Sahel, heute 26, hat zu dem Zeitpunkt schon sein Studium der Pharmazie beendet. Er arbeitet in Aleppo als Apotheker, sein großer Bruder Abdul, heute 27 Jahre alt, studiert dort Management. Cousin Hassan, 24 Jahre, studiert Wirtschaft in Damaskus. Weil sein Studium zu Ende ist, soll Sahel zum Militär. Für ihn ist klar: Wenn er nicht für Baschar al-Assad kämpfen will, muss er Syrien verlassen – vielleicht für immer. Abdul und Hassan schließen sich an. Der Weg nach Deutschland dauert über ein halbes Jahr. In Istanbul müssen sie Zwischenstopp machen, um Geld für die Weiterreise zu verdienen.

1. September 2015. In Budapest drängen sich die Flüchtlinge. Die Polizei gibt schließlich den Weiterweg frei. Kurz darauf treffen die ersten Züge auch am Stuttgarter Hauptbahnhof ein. Mehr als 100 Flüchtlinge holt die Bundespolizei aus den Abteilen. Auch Abdul, Hassan und Sahel sind darunter. Sie sind müde, aber erleichtert. „Die Menschen in Deutschland sind so freundlich“, sagen sie und träumen bereits von einem Masterstudium. Doch die Realität sieht anders aus: Nach der Registrierung folgt der Umzug in die Erstaufnahme in Karlsruhe. Dort leben bereits Tausende. Die drei Syrer schlafen zu Beginn in einem Saal mit rund 100 Betten. Sie brauchen Geduld: Ihren Asylantrag dürfen sie erst mehr als drei Monate später stellen: am 16. Dezember, erfahren sie. „Ich habe 100 Tage Warten vor mir“, sagt Abdul.

28. Oktober 2015. Eine Turnhalle in Obertürkheim. Sahel zieht eines der Absperrgitter zur Seite. „Unser Zimmer“, sagt er auf Deutsch, lacht, und deutet auf die drei Stockbetten hinter ihm. Hier ist jetzt ihr neues Zuhause. Nach acht Wochen in Karlsruhe kündigte ein Aushang ihren Umzug an. Nun also Stuttgart, zufällig, per Quote zugewiesen. 120 Flüchtlinge sind in dem Notquartier untergebracht. Wie lange sie hier bleiben müssen, weiß auch beim Sozialamt der Stadt keiner so recht. Die drei versuchen, der Enge zu entfliehen, schauen sich Ausstellungen an, gehen in die Weinberge und lernen Deutsch mit dem Handy. Dass einige Deutsche ihnen skeptisch begegnen, bedrückt die Syrer. „Wir sind nicht hier, um den Menschen etwas wegzunehmen“, sagt Abdul, „sondern um sicher zu sein. Unser Leben in Syrien war vor dem Krieg nicht so anders als das Leben der meisten hier.“
11. Dezember 2015. Der erste Besuch auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt. „Alles ist anders in Deutschland, als wir es uns vorgestellt hatten“, sagt Sahel. Die Straßen seien nicht so leer. Das Internet sei langsamer als in Syrien. Auch die vielen alten Menschen hatten sie nicht erwartet. In Syrien liegt der Altersdurchschnitt bei 21,9 Jahren, in Deutschland bei 44,1. Anders ist aber auch, dass sie hier frei sprechen können. „In Syrien hatten die Wände Ohren“, sagt Abdul.

16. Dezember 2015. Am frühen Morgen herrscht Chaos vor der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Karlsruhe. Nicht nur Hassan, Abdul und Sahel sind gekommen, um Asyl zu beantragen. Mit rund 300 weiteren Flüchtlingen stehen sie im Dunkeln in der Schlange. Wie viele andere werden sie zunächst ohne Begründung abgewiesen. Plötzlich dürfen sie doch hinein und ihre Asylanträge stellen. Es zeigt sich, dass jeden Tag viel zu viele Menschen nach Karlsruhe bestellt werden. Land und Bund beschuldigen sich gegenseitig, Verursacher der Misere zu sein.

27. Januar 2016. An der Wand der Turnhalle stehen 30 Namen. Auch Abdul, Hassan und Sahel sind dabei. Sie dürfen umziehen – am nächsten Morgen. Es wird gepackt, Abschied genommen von Mitbewohnern und Helfern. Dann geht es los. Mit der Stadtbahn in eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung der Stadt in Zuffenhausen. Dort werden die drei gemeinsam mit drei anderen Syrern wohnen.

7. März 2016. Seit ihrer Ankunft nutzen die drei jede Möglichkeit, die Sprache zu lernen. Inzwischen fahren sie jeden Morgen zum Integrationskurs am Charlottenplatz. Und lernen schnell: Sahel ist Klassenbester.

19. Mai 2016. Beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellt sich heraus: Die Pässe der drei sind verschwunden. Und die vieler weiterer Flüchtlinge. Dass das Asylverfahren sich ungewöhnlich lange hinzieht, hängt wohl damit zusammen. Das Bundesamt räumt Schwierigkeiten ein – und teilt kurz darauf mit, dass zwei der drei Pässe wieder aufgetaucht seien. Welche und wo, darüber schweigt sich die Nürnberger Behörde aus.

6. Juni 2016. Intensivkurs an der Universität Hohenheim. Er läuft noch bis Weihnachten und soll 15 junge Geflüchtete auf ein Studium in Deutschland vorbereiten. Die Plätze sind begehrt, es gibt eine Warteliste – auch deshalb, weil an anderen Universitäten im Land kaum vergleichbare Angebote existieren. Sahel, Abdul und Hassan hatten Glück – sie fahren nun jeden Morgen zum Kurs.

15. Juni 2016. Auch in Stuttgart gehen Abdul, Hassan und Sahel, wie von daheim gewohnt, in die Moschee – freitags, vor ihrem Sprachkurs. Dabei leben sie eigentlich nicht streng religiös. Dass viele Deutsche ihre Religion inzwischen skeptisch sehen, wissen sie. „Wenn ich hier einen Mann mit einem langen dunklen Bart und einem langen Gewand sehe, bekomme ich selbst manchmal Angst“, sagt Sahel – wegen der Bilder, der Angst, die geschürt werde. Dass ein Zusammenspiel von Religionen funktionieren kann, auch in Deutschland, daran glauben sie fest.

11. August 2016. Abdul hat es geschafft, er hält die Anerkennung in seinen Händen. Doch damit ist er alleine in seiner kleinen Gruppe. Für Hassan und Sahel soll es zwei Wochen später eine Anhörung in Karlsruhe geben. Den Grund erfahren sie nicht. Abdul jedenfalls hatte eine solche nicht, hat alle Verfahrensschritte gemeinsam mit Bruder und Cousin durchlaufen. „Wir verstehen das nicht“, sagt Sahel. Wie so manches.

24. September 2016. Nach Abdul hat nun auch Sahel seine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Er kann bleiben, zunächst für drei Jahre. Hassan bangt noch immer.

Ein Jahr nach dem Tag am Stuttgarter Hauptbahnhof, im Herbst 2016, wissen die drei Syrer, dass Ankommen nicht so einfach ist, wie sie damals hofften. „Wir bauen uns hier ein neues Leben auf“, sagen sie – trotz allem. Inzwischen sprechen sie Deutsch fast fließend, suchen eine Wohnung in Stuttgart. Sahel macht ein Praktikum in einer Apotheke, Hassan und Abdul wollen so bald wie möglich weiterstudieren. Aufgeben wollen sie nicht. „Wir machen immer weiter“, sagen sie. Derweil fallen in Aleppo die Bomben im Minutentakt. Die Perspektive auf Frieden in ihrem Heimatland ist düsterer denn je.