Flüchtlinge in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt (Brandenburg) bekommen Hilfe beim Ausfüllen von Formularen. Foto: dpa

Die Kosten für Flüchtlinge drohen zu explodieren. Die Hilfsbereitschaft der Bürger für die Flüchtlinge ist groß – noch zumindest. Experten fürchten einen Stimmungs­umschwung, wenn die Politik die Kosten nicht bald in den Griff bekommt.

Stuttgart - Roger Kehle, der Chef des Gemeindetags Baden-Württemberg, ist ein alter Hase. Seit vielen Jahren im kommunalen Geschäft tätig, weiß er, wann es richtig ist, Alarm zu schlagen, und wann man die Entscheidungen der Politik halt schlucken muss. Nun aber, da der Zustrom an Flüchtlingen aus Syrien und anderen Krisenherden der Welt nicht abebbt und allein im ersten Halbjahr rund 30 000 Menschen nach Baden-Württemberg gekommen sind, war für Kehle der Punkt erreicht, sich zu melden. Also schrieb er vergangene Woche den inzwischen bekannten Brandbrief an Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Tenor: Es ist fünf nach zwölf. Oder wörtlich: „Die Kommunen befinden sich im Krisenmodus“, eine weitere Belastung sei nicht mehr hinnehmbar. Die politisch Handelnden in Bund und Land müssten endlich ein Konzept vorlegen, wie man die Flüchtlingsproblematik in den Griff bekommt. Und genauso wichtig: Man müsse das vor allem den Bürgern erklären. „Sonst droht die positive Stimmung zu kippen.“

Drohungen, Brandanschläge, Schmierereien und andere Taten von Rechtsextremisten aus den vergangenen Tagen lassen erahnen, dass die Stimmung in Teilen der Bevölkerung bereits kippt – zumal die Kosten zu einem Fass ohne Boden werden. Das Haus von Wirtschafts. und Finanzminister Nils Schmid (SPD) kalkulierte bisher für dieses und nächstes Jahr mit Kosten von 1,3 Milliarden Euro – für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge, für die Landeserstaufnahmestellen, für die Betreuung unbegleiteter Flüchtlingskinder. Doch die Berechnung ist reif für Ablage P. Denn sie stammt aus der Zeit, da man für dieses Jahr mit 33 000 Flüchtlingen rechnete. Nun aber werden bis zu 100 000 Zuwanderer im Südwesten erwartet. Und so rechnen sie sich im Ministerium die Finger wund, wie das bezahlt werden soll. Fakt ist: Wenn die Flüchtlinge aus den Landeserstaufnahmestellen für maximal zwei Jahre in die Landkreise zur „vorläufigen Unterbringung“ verteilt werden, zahlt das Land pro Flüchtling derzeit einmalig 13 260 Euro. Damit muss die Unterbringung und Versorgung bezahlt werden. Danach geht es in die Kommunen.

Bis 2017 sollen die Kosten für Flüchtlinge auf drei Milliarden steigen

Wenn aber immer mehr Flüchtlinge kommen, steigen zwangsläufig auch die Kosten für Kreise und Kommunen. Experten des Gemeindetags haben hochgerechnet, dass bis 2017 bis zu drei Milliarden Euro nötig sind, um die Aufgaben zu erledigen. „Die bisherige Finanzausstattung wird nicht reichen“, sagt Steffen Jäger vom Gemeindetag.

Bisher hat der Bund für 2015 und 2016 jeweils 500 Millionen Euro für die Länder reserviert. Baden-Württemberg erhält davon 130 Millionen Euro. „Das ist wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein“, so ein Regierungsbeamter. Experte Jäger bestätigt: „Es muss jetzt schnell gehandelt werden.“ Wenn nicht? „Dann müssen die Kommunen in Vorleistung treten.“ Soll heißen: Der kommunale Haushalt muss bluten. Aber genau davor warnen alle. Wenn klassische kommunale Aufgaben wie ein Spielplatzbau, die Vereinsförderung oder der Schulalltag unter den Flüchtlingskosten leiden, werde „sich die Stimmung in der Bevölkerung schnell ändern“, warnt der Gemeindetag.

Vor allem die Unterbringung in den Kreisen und Kommunen macht zunehmend Sorgen. Überall mangelt es an Platz. Zwar hat Grün-Rot für 2015 und 2016 jeweils 30 Millionen Euro reserviert, damit Wohnungen für Flüchtlinge gebaut werden können. Aus Sicht von CDU-Landeschef Thomas Strobl ist das aber „ein beschämend“ geringer Betrag. „Ein erheblicher Teil der Flüchtlinge wird dauerhaft bei uns bleiben. Deshalb muss jetzt massiv in den Wohnungsbau investiert werden“, sagte Strobl am Dienstag unserer Zeitung und sprach von Mitteln „in Milliardenhöhe“. Dabei dürfe man nicht nur an Flüchtlinge denken, sondern „insgesamt mehr bezahlbaren Wohnraum für alle schaffen“. Andere Bundesländer wie Bayern mit 200 Millionen Euro seien da deutlich aktiver.

Mehr Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklären

Strobl forderte zugleich die Landesregierung auf, ihre Flüchtlingspolitik zu überdenken und weitere Länder wie Albanien, Montenegro und das Kosovo zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, um die Rückführung abgelehnter Asylbewerber zu erleichtern. Kretschmann hatte eben dies vergangene Woche im Namen der grün-regierten Bundesländer abgelehnt und betont, für die Grünen sei „das Boot nie voll“. Aus Sicht von Strobl muss es aber das Ziel sein, die wirklich politisch Verfolgten in Deutschland aufzunehmen, jedoch nicht Wirtschaftsflüchtlinge. „Das Boot ist vielleicht nicht voll, aber es sitzen zu viele Falsche im Boot.“ Angesichts der dramatischen Zugangszahlen müssten sich die Grünen „von ihrer Ideologie verabschieden, die Kurve kriegen und zur Sache zurückkommen“.