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Die zwei Stuttgarter Amtsgerichte und die Stadtverwaltung sagen der Fesselung alter, in Heimen untergebrachter Menschen den Kampf an. „Wir wollen die sogenannten Fixierungen um mindestens ein Drittel verringern“, sagt Till Jakob, Vizepräsident des Amtsgerichts Stuttgart.

Stuttgart - Es ist ein erbarmungswürdiger Anblick. Eine alte, demenzkranke Dame, kaum mehr 40 Kilogramm schwer, liegt mit Gurten gefesselt in ihrem Bett, das zusätzlich mit einem Bettgitter ausgestattet ist. Die unruhige Frau soll vor sich selbst geschützt werden. Im Pflegeheim hat man Sorge, die alte Dame könne des Nachts aus dem Bett steigen oder fallen und sich verletzen. Am nächsten Morgen ist die Frau tot. Sie ist zwischen Bettgitter und Matratze stecken geblieben und erstickt.

Offiziell sterben bundesweit rund 30 Menschen pro Jahr, weil sie fixiert waren – durch Brustkompression oder weil sie sich strangulieren. Die Dunkelziffer ist hoch. Die deutsche Hospizstiftung schätzt, dass bis zu 280 000 von insgesamt rund 700 000 Pflegeheimbewohnern fixiert werden. Experten, unter anderem der Pflege-Selbsthilfeverband, sprechen dagegen von 400 000 gefesselten Menschen. „In Stuttgart hatten wir im vergangenen Jahr 400 bis 500 Fixierungen“, sagt Till Jakob, Vizepräsident des Amtsgerichts Stuttgart. Sofi, sprich: Stuttgart ohne Fixierung, soll Abhilfe schaffen.

„Es geht uns um die ethische Frage: Wie gehen wir mit den alten Menschen um und wie möchte man später selbst behandelt werden?“, sagt Jakob, und er stellt klar: „Gurte haben etwas Grausames, Gitterbetten etwas Entwürdigendes.“

Mit den Fesselungen sollen die Heimbewohner vor Stürzen bewahrt werden

Seit 1992 muss laut dem Betreuungsgesetz ein Richter die freiheitsentziehenden Maßnahmen genehmigen, die vordergründig zum Wohle der Betroffenen ergriffen werden: Bettgitter, Bauchgurte, Fixierungen im Bett, sogenannte Therapietische, von denen die alten Menschen nicht mehr aufstehen können. Manchmal wird auch einfach die Bremse des Rollstuhls so eingestellt, dass sie vom Pflegling nicht erreicht werden kann. Mit den Fesselungen sollen die Heimbewohner vor Stürzen und so vor Verletzungen bewahrt werden. Außerdem schützen sich die Heime vor Klagen der Angehörigen.

Mit Sofi wollen die beiden Stuttgarter Amtsgerichte zusammen mit der Betreuungsbehörde und der Heimaufsicht der Stadt Stuttgart die Zahl der Fesselungen in den Pflegeheimen drastisch reduzieren. Dafür beschreitet man in Stuttgart künftig den Werdenfelser Weg. „Sebastian Kirsch, Betreuungsrichter am Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen, hat uns mit seiner Idee infiziert“, sagt Till Jakob. Richter Kirsch und seine Mitstreiter haben seit 2007 die Zahl der Fesselungen um Zweidrittel reduziert.

Wenn beim Amtsgericht ein Antrag auf die Genehmigung einer Fixierung eingeht, wird wie bisher ein ärztliches Gesundheitszeugnis eingeholt. „Das war bis jetzt meist ein Dreizeiler: Dement, Sturzgefahr – Fixierung“, so Jakob. Die Anordnung der freiheitsentziehenden Maßnahme sei dann in fast allen Fällen genehmigt worden. Künftig beauftragt das Gericht einen Verfahrenspfleger als Fürsprecher des Betroffenen. Dieser Verfahrenspfleger, der kein Jurist mehr sein soll, sondern eine pflegeerfahrene Person, erörtert mit dem Pflegeheim und den Angehörigen technische und pflegerische Alternativen zur Fesselung. „Mindestens ein persönlicher Besuch des Verfahrenspflegers im Pflegeheim ist selbstverständlich“, so Jakob. Auch darf der Verfahrenspfleger in keinem Abhängigkeitsverhältnis mit einem Pflegeheim in Stuttgart und Umgebung stehen, und er muss unabhängig von Heimaufsicht und Krankenkassen sein. Anhand der Stellungnahme des Verfahrenspflegers führt dann das Gericht eine Anhörung bei dem Betroffenen im Pflegeheim durch.

„Wir werden nicht alle Fixierungen vermeiden können“

„Wir werden nicht alle Fixierungen vermeiden können, aber es gibt meist eine Alternative“, sagt Jakob. Man könne alte Menschen, die wegen ihrer Demenz ausbüxen wollen oder nachts aus dem Bett zu fallen drohen, beispielsweise mit Sensormatten zudecken oder in niedrigere Spezialbetten legen. „Der Verfahrenspfleger kann auch eine dreiwöchige Probephase für den Betroffenen vorschlagen“, sagt Jakob. Ganz wichtig: Falls man sich im Rahmen von Sofi gegen eine Fixierung entschieden hat und es kommt doch zu einer Verletzung des Pfleglings, kommt eine Haftung des Pflegeheims nicht in Betracht. „Im Leben bleibt immer ein Risiko“, so Vizepräsident Jakob.

Die Verantwortung der Betreuungsrichter, die als Einzige die Fesselungen genehmigen dürfen, bleibt hoch. 2008 hatte das Landgericht Stuttgart einen Nürtinger Richter wegen Rechtsbeugung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der Jurist hatte in 60 Fällen Fixierungen genehmigt, ohne die Betroffenen je zu Gesicht bekommen zu haben. Mehrmals erlaubte er Fesselungen von alten Menschen, die bereits gestorben waren. Eine anonyme Befragung des Bundesjustizministeriums ergab, dass 35 Prozent aller Betreuungsrichter in Deutschland die vorgeschriebenen Anhörungen nicht vornehmen. Und das bei rund 400 000 Fixierungen pro Jahr. „Wir brauchen einen neuen Geist in der Pflege“, sagt Till Jakob.