Nehal (vorne) und ihre Schwester Zohra (von hinten), die nicht erkannt werden möchte Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Vergewaltigt, zum Tod durch Steinigung verurteilt, Flucht – die junge Zohra war in Afghanistan das Opfer des traditionellen islamischen Rechts geworden, ihr drohte die Abschiebung. In Stuttgart fassen sie und ihre Schwester Nehal aber neue Hoffnung.

Stuttgart/Kabul - Ein Leser hat unserer Zeitung geschrieben: „Das Schicksal der Mädchen hat mich sehr berührt. Ich bitte Sie, einen Spendenaufruf für die Schwestern aus Afghanistan zu starten!“ Dem handgeschriebenen Brief waren 200 Euro für die Asylbewerberinnen beigelegt, denen aufgrund des EU-Flüchtlingsrechts die Abschiebung nach Afghanistan drohte und der älteren Schwester vermutlich sogar der Tod durch Steinigung in der früheren Heimat. Der Brief datierte von April 2014. Heute leben die Mädchen in einer Zweizimmerwohnung in Bad Cannstatt. Die ältere Schwester, Zohra mit Vornamen, träumt davon, eines Tages einen eigenen Friseursalon zu führen. Die jüngere, Nehal, will Zahnärztin werden. Bis sie diese Hoffnung fassen konnten, hatten sie eine dreijährige Odyssee hinter sich gebracht.

Wenn man den Schilderungen der 25-jährigen Zohra Glauben schenken will, hat sie ein Unrecht erlitten, das gen Himmel schreit: Nach einer Vergewaltigung durch Islamisten am Arbeitsplatz, einem Beautysalon, wurde sie von einem Dorfgericht wegen außerehelichen Sex zum Tod durch Steinigung verurteilt. Die Täter kamen davon, weil vom Opfer nach inoffiziellem traditionellem islamischem Recht durch männliche Zeugen nachzuweisen wäre, dass der Geschlechtsakt nicht einvernehmlich erfolgte.

Blieb also nur die Flucht. Der Vater soll einen Schlepper bezahlt haben, der Pässe besorgte. Einen Pass nicht nur für Zohra, sondern auch für Nehal. Sie wollte der Vater auch in Sicherheit bringen. „Die Pässe sollten wir im Flugzeug mit den Zähnen zerreißen und dann das Klo runterspülen“, erinnert sich Nehal. Das Flugzeug landete in den Niederlanden, Rotterdam. Doch die Mädchen hatten nicht mit den Tücken des europäischen Asylrechts gerechnet: Nachdem der Asylantrag der jungen Afghanin in den Niederlanden abgelehnt wurde, da Zohra den Fall aus Schamgefühl nicht schildern wollte, reisten die Mädchen verzweifelt mit dem Zug nach Stuttgart weiter. Doch auch hier gewährte man kein Asyl.

Grund dafür war das Dublin-Abkommen, das regelt, dass ein Flüchtling nur in dem EU-Land Asyl beantragen darf, in dem er europäischen Boden betreten hat. Die Geschichte der jungen Afghaninnen ist ein Präzedenzfall, der nicht nur am zuständigen Amtsgericht Stuttgart, sondern bis zum Bundesamt für Asyl und Flüchtlinge Wellen geschlagen haben dürfte. Kurz nach dem Erscheinen eines Beitrags über die Mädchen revidierte das Amtsgericht sein Urteil und entschied, dass die Mädchen erst einmal in Deutschland bleiben dürfen. Auch wenn das endgültige Urteil über das Bleiberecht der Schwestern noch aussteht, glaubt Roland Kugler, der Rechtsanwalt der Mädchen, dass ihnen hier dauerhaft Asyl bewilligt wird.

Bis April lebten Zohra und Nehal im Flüchtlingsheim in der Tunzhofer Straße noch in Angst. Die Vorstellung, zurück nach Holland zu müssen, wo ihnen ein rasches Abschiebungsverfahren nach Afghanistan drohte, veranlasste Zohra zu drastischen Maßnahmen. Sie unternahm zwei Selbstmordversuche. „Nachts habe ich mich besonders gefürchtet“, sagt 16-jährige Nehal heute, „wir wussten, dass die Polizei immer nachts kommt, um Asylbewerber abzuholen, die nicht hierbleiben dürfen.“

Noch heute leidet Zohra unter dem Erlebten und ist bei der Flüchtlingsberatung Refugio in Therapie. Was man ihr nicht ansieht: Zohra wirkt, wie auch ihre kleine Schwester, wie eine ganz normale junge Frau, beide sind offenbar sehr westlich orientiert. Zohra trägt kein Kopftuch, dafür Eyeliner. Nehal knalltürkisen Nagellack und Chucks.

Auch beruflich haben beide mehr Ambitionen als die meisten Frauen in Afghanistan. Nehal ist eine sehr fleißige Schülerin und will Zahnärztin werden. „Das sind sehr angesehene Leute“, sagt sie. Die junge Afghanin spricht sehr gutes Deutsch dafür, dass sie noch keine eineinhalb Jahre hier ist. Außerdem beherrscht sie afghanisches Persisch, Englisch und Niederländisch. Vier Sprachen – nicht übel für eine 16-Jährige! Zohra besucht eine Kosmetik- und Friseurschule, wo sie den Hauptschulabschluss erwerben will. Ihr Deutsch ist schlechter als das ihre kleinen Schwester. Grund dafür ist, dass es für sie altersbedingt schwieriger war, eine Schule in Deutschland zu finden.

Unterstützung bei der Schulsuche hatten die Mädchen durch die Schauspielerin Kathrin Hildebrand. Zohra und Nehal zählen die Mitbegründerin der Theatergruppe Lockstoff, die im öffentlichen Raum spielt, heute zu ihrer Familie. Die Schauspielerin hat die Schwestern während des Theaterprojekts „Revolutionskinder“ ins Herz geschlossen, in dem Flüchtlingskinder ihre Erlebnisse auf der Bühne verarbeiten. Kürzlich wurde das Projekt mit dem Bürgerpreis der Bürgerstiftung Stuttgart ausgezeichnet.

Nehal erzählt dort ihre Geschichte verfremdet, Zohra hilft hinter den Kulissen in der Maske mit. „Als ich die Geschichte der Mädchen hörte, war mir klar, dass ich helfen muss“, sagt Hildebrand. Aufgrund der schlechten Lebensbedingungen im Flüchtlingsheim und einem Stalker, der Nehal verfolgt haben soll, fand der Antrag auf einen Härtefall Gehör. Den Mädchen wurde gestattet, sich auch ohne Asylzusage eine eigene Wohnung zu suchen. Ein urschwäbischer Vermieter, erinnert sich Nehal, habe so reagiert, als er die Mädchen sah: „Ihr zwoi Mädels machet doch bestimmt Party. Aber i han ja schon g’sagt, ihr kennet d’Wohnung han.“

Die Wohnung in Bad Cannstatt ist seit langem die erste eigene Bleibe, die sie bewohnen, sagen die Mädchen. Drei Jahre lang hätten sie nur in Flüchtlingsheimen gelebt. „In Holland war es besonders schlimm“, sagt Nehal, „dort waren wir mit vielen anderen Flüchtlingen auf engstem Raum. Und als unser Antrag abgelehnt wurde, musste Zohra auf der Straße schlafen. Ich durfte nur bleiben, weil ich noch so klein bin.“

Zustände, die heute der Vergangenheit angehören. In Stuttgart haben Zohra und Nehal ein neues Zuhause gefunden.

Ob sie irgendwas an Afghanistan vermissen? Kopfschütteln, dorthin wollen sie nie wieder zurück. Doch dann verdrückt Nehal still eine Träne: „Ich vermisse meine Familie. Meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder und meine andere Schwester.“

Tapfer schluckt die Kleine ihren Kummer herunter. „Seit drei Jahren habe ich nichts von ihnen gehört“, sagt sie. Kathrin Hildebrand nimmt sie an der Hand. Versuche, die Familie zu kontaktieren, sind bis jetzt gescheitert. Vielleicht haben auch sie Kabul wegen der Taliban verlassen.

Ob Nehal ihre Eltern und Geschwister jemals wiedersehen wird? Die Hoffnung hat sie nicht aufgegeben.