Sarah Gerster berichtet von ihrer Arbeit mit behinderten Kindern in Rumänien / Sozialsystem schlecht umgesetzt

Eutingen. Rumänien statt Eutingen: Seit exakt einem halben Jahr ist der Lebensmittelpunkt für Sarah Gerster in Südosteuropa: Zur Halbzeit ihres Aufenthaltes zieht sie eine Zwischenbilanz.

"Nach Weihnachten", schreibt sie in die Heimat, "hat sich meine Arbeit in der Behindertentagesstätte Carani noch einmal derart gewandelt, dass ich eher das Gefühl habe, wieder von vorne zu beginnen".

Seit einer Weile hat Carani eine neue Mitarbeiterin, die für die Küche verantwortlich ist und den Kindern am Nachmittag Schulunterricht gibt. "Die Logopädin und die Psychologin – meine bisherigen Kolleginnen – gehen wieder ihren eigentlichen Aufgaben nach. Das bedeutet, dass beide mindestens zwei Stunden pro Tag mit Einzeltherapien beschäftigt sind. In dieser Zeit betreue ich alle Kinder allein, die gerade keine Therapie haben. Eine Aufgabe, die schaffbar, aber anstrengend ist".

Gleichzeitig gab es auch für viele der Kinder einen Wechsel. Die über 18-Jährigen dürfen nun seltener kommen, da es zu viele Neuanfragen von jüngeren Kindern gibt, für die Carani eigentlich gedacht war. Damit kam die Umstellung zurück zur Einzeltherapie, trotz Personalmangels, ohne die eine wichtige Chance vergeben werden würde, die Lebensqualität dieser Kinder nachhaltig zu verbessern. Freitags gibt es jetzt außerdem einen speziellen Gesprächskreis für die Jugendlichen über 18, in dem Themen wie Liebe, Sexualbeziehungen und Körperhygiene besprochen werden.

"Für mich sind diese Gesprächskreise sehr interessant, da ich eine Menge lernen kann, wie geistig behinderten Menschen solche Themen nahegebracht werden, welche Themen überhaupt wichtig sind und wie die Kinder damit umgehen", schreibt Sarah Gerster.

Ein Zwischenseminar war Anregung, mich genauer mit Kindern auseinander zu setzten. "Für dieses Seminar sollen wir eine Präsentation über Armut in unserem Lebensumfeld und über eine sozial benachteiligte Person aus unserer Arbeit erstellen. Das Mädchen, das ich mich zum Vorstellen entschieden habe, werde ich Anica nennen".

Anica ist 16 Jahre alt und leidet an ADHS sowie an einer leichteren Form von Autismus. In der Praxis äußert sich das dadurch, dass sie keine Geduld hat, praktisch nicht still sitzen kann, fast ununterbrochen irgendwas redet und andauert ihre Hände miteinander verknotet, wenn sie gerade nichts anderes damit tun kann. Sich zu konzentrieren, fällt ihr sehr schwer.

Ursprünglich hatte Anica mit ihrem Bruder die Nachmittagsbetreuung in Carani besucht. Während dieses Programms fiel den Betreuern Anicas Behinderung auf. Dass die Behinderung des Kindes vor dem Besuch von Carani nirgendwo registriert war, ist kein Einzelfall.

Auf Sarah Gersters Frage, weshalb Anicas Eltern keine Akte über ihre Behinderung haben, meinte ihre Mitarbeiterin, dass die Eltern der Mutter deren Behinderung vermutlich nicht bemerkt haben, weil niemand in Frage gestellt habe, dass das Kind in der Schule einfach nicht lernen wolle.

Anicas Vater sei der "Schandfleck der Familie", dessen Bruder hingegen Ingenieur und Politiker. Anicas Behinderung wurde verdrängt. "Auch das ist in Carani kein Einzelfall", weiß die Eutingerin inzwischen.

Der politikengagierte Onkel ist der Grund dafür, weshalb Anica Anfang dieses Jahres das Gymnasium in Timisoara besucht hatte. Carani hat dieses Vorhaben nicht unterstützt, aber der Onkel wollte es so. Das Erlebnis war für Anica eine Katastrophe.

Am Ende hat Anica sich so heftig geweigert, weiter ins Gymnasium zu gehen, dass ihre Mutter eingesehen hat, dass es keinen Sinn hat. "Ich weiß von mindestens einem weiteren Kind in Carani, das ähnliche Erfahrungen machen musste", erzählt Sarah Gerster. "In Timisoara gibt es kein einziges Gymnasium mit einer integrativen Klasse".

Anica komme oft schmutzig nach Carani, dusche viel zu selten, trage alte Kleidung und ihre Familie brauche im Winter Unterstützung, weil sie kein Geld für Holz haben. Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen verdienten ihre Eltern kaum etwas und zum anderen gebe es zwar ein theoretisch gutes Sozialsystem in Rumänien, es werde aber schlecht umgesetzt. Deshalb bekommt die Familie für Anica praktisch kein Geld.

"Als ich mit meiner Kollegin angefangen habe, über Anicas Zukunft zu sprechen ist die Stimmung noch drückender geworden", erzählt die Eutingerin. Carani ist der Ansicht, dass Anica eine hohe praktische Intelligenz besitzt und mit wenig Anleitung alleine gut wohnen könnte. Doch in der theoretisch in Frage kommenden Erwachseneneinrichtung in Timisoara habe sie keine Chance, weil die Einrichtung überlaufen sei. "Zudem meint die Mitarbeiterin, mit der ich gesprochen habe, dass die Mutter vermutlich nicht wollen würde, dass Anica auszieht, weil sie gut im Haushalt helfen kann", schreibt Sarah Gerster abschließend.