Für ihre Arbeit sind nur wenige Deutsche bereit, umzuziehen / Stattdessen pendeln sie stundenlang

Von Markus Brauer Oberndorf. Die Möbelpacker warten schon. Fünf kräftige Kerle, die zupacken können und versprechen, keine Macken im Parkett zu hinterlassen. Freundlich sind sie dazu. Acht strapaziöse Stunden und etliche Tonnen an Kisten, Möbeln, Lampen und Kleinkram später ist alles in die neue Wohnung transportiert. Die liegt gerade mal ein paar Hundert Meter Luftlinie entfernt. Ein dickes Trinkgeld für die fleißigen Malocher – und das Schlimmste ist geschafft.

Einen Umzug wie diesen haben die meisten schon einmal erlebt. Vier bis fünf Millionen Haushalte in Deutschland wechseln jedes Jahr ihren Wohnort. Das heißt: Jährlich verstauen bundesweit acht bis neun Millionen Menschen Bücher, Porzellan und Nippes, Regale werden auf- und abgebaut, Bilder ab- und aufgehängt.

Die Deutschen – ein mobiles Volk, sollte man meinen. Doch die Flexibilität gilt nur fürs Privatleben. Beruflich sind die Bundesbürger – wie die Europäer insgesamt – "sehr sesshaft", sagt der Mobilitätsexperte Norbert F. Schneider, Leiter des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), "Zeit online". "Umzug ist in Deutschland eher angstbesetzt." Jungakademiker seien umzugsbereit, die anderen nicht.

Die Experten unterscheiden zwei Formen von Mobilität: Die "residenzielle" Mobilität macht ein Drittel der Gesamtmobilität aus. Sie umfasst Migration, den Wechsel für einen Auslandsjob oder einen Umzug an einen neuen Wohnort, der mehr als 50 Kilometer vom alten entfernt liegt. Bleiben noch zwei Drittel: Diese Mobilität wird "zirkulär" genannt. Sie starten also an einem Punkt, an dem sie später wieder ankommen. Darunter fallen Fernpendler mit mehr als einer Stunde Fahrzeit pro Strecke, Wochenendpendler, Dienstreisende sowie Montage- und Saisonarbeiter.

Heimatgefühl und soziale Kontakte sind wichtiger als Nähezum Arbeitsplatz

Genau genommen sind die meisten der acht Millionen Wohnungswechsler nicht besonders mobil. Nach einer Umfrage der Umzug AG (2007) planten 52 Prozent der Befragten einen Umzug innerhalb ihrer Gemeinde. 20 Prozent blieben in der näheren Umgebung. Nur 28 Prozent wollten weiter wegziehen.

Umzugsmobile – wie Soziologen Personen nennen, die innerhalb der vergangenen drei Jahre mindestens 50 Kilometer entfernt eine neue Bleibe bezogen haben – gibt es nur wenige. Womit man wieder bei den Zirkulären landet: "Im Durchschnitt sind 72 Prozent der mobilen Erwerbstätigen als Fernpendler, Wochenendpendler oder etwa im Rahmen häufiger Dienstreisen zirkulär mobil", erklärt die Soziologin Silvia Ruppenthal vom BiB. Das tägliche Fernpendeln sei "besonders populär", weil die Deutschen wo immer möglich die Entwurzelung meiden, in ihrer Heimat und innerhalb ihrer sozialen Netzwerke bleiben würden. Da setzen sie sich lieber zwei, drei oder vier Stunden pro Tag ins Auto oder in die Bahn.

"Der Job definiert die Mobilität und den Wohnort", erklärt der Mobilitätsforscher vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Der Anteil an Personen, die "etwas Neues machen oder ins Ausland ziehen wollen", sei sehr klein. "Im Prinzip ist Mobilität ökonomisch bedingt."

Dieses Phänomen ist nicht neu. Schon im 19. Jahrhundert zogen Menschen aus Polen ins Ruhrgebiet, um in der Kohle- und Stahlindustrie Arbeit zu bekommen. Dazu kommt die Abwanderung von Ost nach West und umgekehrt: Nach BiB-Angaben wanderten von 1990 bis 2006 rund 2,8 Millionen Personen in den Westen und umgekehrt 1,5 Millionen Personen in den Osten. Der Osten steht unterm Strich allerdings schlechter da: Per Saldo verloren die neuen Bundesländer 1,3 Millionen Einwohner.

Die Zahl der sogenannten Personenkilometer, die jährlich absolviert werden, hat sich seit 1950 verdreifacht. Der Grund: Die Bundesbürger reisen mehr. Allerdings pendeln sie eben auch weiter. Knie: "Die Zahl der Pendler und der Entfernungen zur Arbeit sind deutlich angestiegen."

Dies bestätigt eine Studie über berufliche Mobilität und Familienleben in Europa ("Job Mobilities and Family Lives in Europe"). Von sechs untersuchten Ländern ist Deutschland am mobilsten. Fast 20 Prozent der Arbeitnehmer sind Fernpendler, Übernachter oder Umzugsmobile. Sie sind lieber ständig auf Achse, als den Umzug in die Fremde zu riskieren. Dies führe zu einem "beständigen und andauernden Mobilsein, einem großen und vielfältigen Mobilitätsaufkommen", urteilt Ruppenthal.

Laut Mikrozensus 2008 brauchen mehr als 1,4 Millionen Deutsche täglich mindestens zwei Stunden für den Weg zur Arbeit und zurück. In vielen Unternehmen sind hohe Flexibilität und Mobilität sogar Voraussetzung, dass man eingestellt wird und auf der Karriereleiter aufsteigt. Beruflicher Aufstieg sei nicht nur durch Bildung möglich, sondern auch durch Mobilität, betont Knie. "Wer viel verdienen und beruflich aufsteigen will, muss permanent beweglich sein."

Allerdings: Die Lebensqualität und das Wohlbefinden von Pendlern werden deutlich reduziert, wie der Soziologe Heiko Rüger erklärt. Besonders brisant ist die Mobilitätssituation der modernen Frau. Sie ist laut Statistik häufig kinderlos und ledig. Pendeln verträgt sich offenbar nur schwer mit der Rolle als fürsorgliche Mutter. Laut der europäischen Mobilitätsstudie sind 34 Prozent der Single-Frauen mobil, aber nur sechs Prozent derjenigen, die Mann und Kinder zu Hause haben. "Kinderlosigkeit scheint Mobilität erst zu ermöglichen", erklärt Rüger.

Die Mobilitätsraten variieren nach Geschlecht, Alter und Bildung. Jungakademiker haben die wenigsten Probleme mit einem beruflich bedingten Umzug. Fast die Hälfte der 25- bis 34-jährigen Hochschulabsolventen sind nach BiB-Angaben in den vergangenen drei Jahren weiter als 50 Kilometer umgezogen. Bei Nichtakademikern sind es gerade mal sieben Prozent. Die Wohnortwechsler rekrutieren sich vor allem aus den höheren Bildungsschichten.

Dauermobile sind jedoch einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden und Stoffwechselerkrankungen gehören zu den häufigsten Beschwerden von Pendlern. Der Zeitdruck führt dazu, dass ihr Wohlbefinden abnimmt und sie Sport und Gesundheitsvorsorge vernachlässigen.

Experten: durch Mobilität steigt Belastung für Familien

Die Forscher gehen dennoch davon aus, dass die berufsbedingte räumliche Mobilität zunehmen wird. Damit werden auch die Belastungen für immer mehr Menschen und ihre Familien wachsen.

Auch wenn man die gesellschaftliche Entwicklung nicht aufhalten kann, gibt es durchaus Möglichkeiten, Pendlern ihren stressigen Alltag zu erleichtern. So schlägt Mobilitätsexperte Schneider vor, mobile Arbeitnehmer durch flexible Arbeitszeiten zu entlasten – etwa durch einen Tag, an dem sie zu Hause arbeiten können.

Viele Firmen fürchteten jedoch einen Kontrollverlust. "Wir stellen immer wieder fest, dass die meisten Arbeitgeber weit weniger flexibel sind, als sie es von ihren Arbeitnehmern erwarten."