Jugend-Banden - auch in Stuttgart gibt es sie. Foto: Patricia Sigerist

Was macht einen Jugendlichen zu einem gefährlichen Bandenmitglied? Wie erlebt er Gewalt, Totschlag und Strafe? Eine Annäherung an etwas schwer Fassbares mit einem Ex-Rocker und dessen Bewährungshelfer.

Was macht einen Jugendlichen zu einem gefährlichen Bandenmitglied? Wie erlebt er Gewalt, Totschlag und Strafe? Eine Annäherung an etwas schwer Fassbares mit einem Ex-Rocker und dessen Bewährungshelfer.

Stuttgart - Es gibt immer einen guten Grund. Dieser Grund bewegt Menschen zu ihren Taten. Nur wenn Thomas Eisenhofer (37) diesen Beweggrund kennt, kann er seinen Klienten einschätzen. Nur so kann er eine Sozialprognose stellen. Thomas Eisenhofer ist Bewährungshelfer. Seine Klienten sind Straftäter, die zwei Drittel oder die gesamte Haftstrafe verbüßt haben und nun wieder ein Teil der Gesellschaft werden sollen. Vor kurzem stellte er diese Frage Nedzad K. (26/Name geändert). Er trifft ihn wenige Wochen vor dessen Entlassung im Knast und will von ihm eines wissen:

„Was war Ihr guter Grund?“

Warum hat sich Nedzad K. schon als 14-Jähriger in Fellbach mit seinen Kumpels zu einer kleinen, doch schnell berüchtigten Straßengang zusammengeschlossen? Warum haben sich die Jungs schon in diesem Alter mit anderen geprügelt? Warum hörte Nedzad K. weder auf seinen Vater noch auf seinen großen Bruder, als die ihn vor Unheil bewahren wollten?

Am Ende sind es auch tief erschütterte Eltern, die sich dies in einem überfüllten Gerichtssaal immer wieder fragen. Warum wurde ihr Sohn in dieser verfluchten Nacht in einem Stuttgarter Vorort von maskierten Männern zum Krüppel geschlagen? Heimtückisch mit Eisenstangen, Baseballschlägern und Schlagstöcken traktieren die Täter den damals 28-jährigen Industriemechaniker. So lange, bis er röchelnd in seinem Blut liegt und Hirnmasse austritt. Versuchter Totschlag. Denn das Opfer überlebt, aber wird bis ans Ende seiner Tage nicht mehr ohne Betreuung und Pflege leben können.

Wie konnte es so weit kommen?

Fragen über Fragen, die Nedzad K. knapp fünf Jahre nach dieser Tragödie nur schwer und zögerlich beantworten kann. Seine Erklärungen sind vage: „Wir wollten die verfeindete Gruppe erschrecken. Panik verbreiten, aber dann ist die Sache aus dem Ruder gelaufen. Und ich war sowieso nur ein Mitläufer.“

Das Gericht hat an dieser Version Zweifel und verurteilt Nedzad K. zu sieben Jahren und vier Monaten Haft. Selbst nach zahllosen Verhandlungstagen bleibt vieles im Dunkeln. Ungeklärt ist bis heute der auslösende Funken zu dieser Gewaltorgie. Wie konnte es zu diesem unkontrollierbaren Blutrausch kommen?

Nedzad K. zuckt mit den Schultern und blickt zu Boden. „Das werde ich immer wieder gefragt“, sagt er. Aber noch nie hat er eine befriedigende Antwort gefunden. Er glaubt an eine fatale Sogwirkung, die alle mitreißt und zu prügelnden Robotern macht. Er glaubt an jene Gruppendynamik, die schon auf den pubertierenden Nedzad K. so mächtig wirkte.

Anerkennung ist ein wichtiger Faktor

Er spricht von Anerkennung, die er in der Bande vor zwölf Jahren fand. Von Freundschaft und Zusammenhalt. „Wir wollten halt die Stärkeren sein, wir wollten uns beweisen und Bestätigung, wir fühlten uns in der Gruppe stärker als alleine“, sagt er, „und wir haben uns schnell einen Namen gemacht.“

Es ist ein zweifelhafter Ruf, der auf der Angst anderer gründet. Aber welcher Halbwüchsige reflektiert das schon. Nedzad K. spürt als 14-Jähriger nur eines: So viel Achtung müsste er sich in einem bürgerlichen Leben hart erarbeiten. So bekommt er alles mühelos. Perspektiven und diese guten Gefühle.

Es schmeckt süß wie Honig, dass er stolz auf sich selbst sein kann. Er erlebt einen Ritterschlag, als das verlockende Angebot einer großen, über die Stuttgarter Grenzen hinaus agierenden Gang kommt: Die Bande will die furchtlosen Vorstadt-Jungs bei sich aufnehmen. Ganz ohne Bedingungen oder Mutproben, mit allen Ehren und Insignien. Vor allem die einheitliche Kutte dieser Gang fasziniert Nedzad K. – weil sie ihm Respekt verschafft. Einfach so.

Wow, eine Bilderbuchkarriere, denkt er damals und wird ein Vollmitglied der Bande. Heute beteuert er: „Aus und vorbei. Ich habe nix mehr mit denen zu tun.“

Losgesagt und abgeschworen.

Der Knast habe den Aussteiger geläutert. In Stammheim und Schwäbisch Hall grübelt er über das Gestern, das Leid der Opfer und die unsichere Zukunft. Sogar religiös ist er heute und spricht als Moslem von „einem gewaltfreien Leben“. Die Chancen stehen gut, dass Nedzad K. demnächst sogar eine Ausbildung beginnt und mit seiner Freundin eine Familie gründet. Noch vor fünf Jahren wäre so eine Entwicklung eher unwahrscheinlich gewesen. Doch seitdem hat sich in der Bewährungshilfe einiges getan.

Damals trafen Bewährungshelfer ihre Klienten oft erst Monate nach deren Entlassung. Zu spät, um eine solide Resozialisierung einzuleiten. „Die ersten zwei, drei Wochen nach der Entlassung sind die Akutphase, in der Menschen sehr gefährdet sind, wieder straffällig zu werden“, bestätigt Michael Haas, Sprecher der Neustart gGmbH, die im Land für die Bewährungshilfe zuständig ist.

Auch Nedzad K. kennt die „Angst, Fehler zu machen, wenn man raus kommt“. Und er weiß von dem Risiko, ins kriminelle Milieu abzugleiten. Daher schätzt er sich glücklich, dass Thomas Eisenhofer vor der Entlassung an seiner Seite war: „Ohne ihn wäre ich ziemlich aufgeschmissen gewesen.“

Bewährungshelfer sind keine Sozialromantiker

Allerdings ist der Bewährungshelfer keineswegs nur ein netter Alltagshelfer. Thomas Eisenhofer ist kein Sozialromantiker, der unerschütterlich ans Gute im Menschen glaubt. Der Diplom-Sozialpädagoge ist Profi – und damit ein gnadenloser Realist mit Doppelmandat: „Ich muss helfen und betreuen, aber auch kontrollieren. Da spielt Nächstenliebe keine Rolle.“

Eisenhofer kennt die Versuchungen, die seine Klienten auf den falschen Weg führen. Umgekehrt weiß er auch, was sie brauchen, um die Rückkehr in die Gesellschaft zu schaffen. Nämlich Hilfe zur Selbsthilfe. Für Nedzad K. bedeutet das: Er muss ein Antiaggressionstraining besuchen, die Trennung von der Gang rigoros durchziehen, sich um einen Job sowie einen festen Wohnsitz kümmern.

All das sind jedoch nur „organisatorische Dinge“. Am Ende seiner Arbeit geht es ans Eingemachte. An die Fragen nach Schuld, Sühne, Verantwortung und dem Auslöser. „Man macht nichts im Leben ohne guten Grund“, sagt Eisenhofer wieder, „und dies selbst zu erkennen, ist einer der wichtigsten Aspekte für einen Klienten.“ Nur so sei eine erfolgreiche Deliktaufarbeitung möglich. Also auch die Rückkehr in die Gesellschaft.

Nedzad K. ist auf diesem Weg schon ziemlich weit. Er zeigt moralisches Denken, hat realistische Ziele und kann die Perspektiven von anderen einnehmen. „Aufgrund dieser Faktoren ist seine Prognose eher günstig“, sagt der Bewährungshelfer, „aber all das wird hinfällig, wenn jemand noch mit seiner Bande verbunden ist und bleibt.“ Dann wirkt wieder das, was Nedzad K. schon als 14-Jährigen magisch in Bann zog. Diese Kraft der Gruppe, die er als Segen empfand, aber schließlich zu einem Fluch wurde.

Diese Kraft ist offenbar sein guter Grund.