Der Joint und seine Zutaten gehören immer öfter zu den Fundstücken von kontrollierende Polizeibeamten. Foto: dpa

Die Drogenkriminalität droht auch in diesem Jahr einen traurigen Rekord in der Polizeistatistik zu erreichen. Das liegt an verstärkten Kontrollen – und einer hartnäckigen Kleindealerszene.

Stuttgart - Wie er wirklich heißt, weiß man nicht so genau. Der 17-Jährige, der aus Algerien stammt und in Bad Cannstatt gemeldet ist, hat zwei unterschiedliche Nachnamen und zwei verschiedene Geburtsjahre. Er könnte auch 18 sein. Eine Zivilstreife sichtet ihn an einem Dienstagabend in der Innenstadt, wo er am Arnulf-Klett-Platz etwas an einen jungen Passanten verkauft. Ein Kanten Haschisch. Als der Verdächtige wenig später eine Polizeistreife entdeckt, flüchtet er in die Klett-Passage und versucht in einer Stadtbahn zu entkommen. Am Rotebühlplatz endet die Flucht.

Ein typischer Alltagsfall aus der Innenstadt. „Zu Jahresbeginn spielten Schwarzafrikaner aus Gambia in der Kleindealerszene eine große Rolle, der Täterkreis hat sich dann nach mehreren Ermittlungserfolgen in Richtung Maghreb verschoben“, stellte Polizeivizepräsident Norbert Walz bereits vor Wochen im Rathaus bei einer Zwischenbilanz der Sicherheitskonzeption Stuttgart fest. Mit den Sonderstreifen, etwa 20 bis 30 Beamte, unterstützt von Einsatzhundertschaft und Bundespolizei, wird seit Januar die Diebes- und Drogenszene in der Innenstadt verstärkt unter Druck gesetzt.

Ob das die Täter beeindruckt, ist nicht sicher. Der junge Algerier mit den zwei Namen landet nicht zum ersten Mal hinter Gittern. Ende 2015 bis Februar 2016 saß der Jugendliche bereits wegen Drogendelikten in Haft. Über den jungen Mann mit den zwei Namen gibt es bei der Polizei bereits eine lange Liste – Drogen, Körperverletzung, Diebstahl.

Schon letztes Jahr ein Rekord bei Drogenkriminalität

Wo verstärkt kontrolliert wird, werden auch mehr Straftaten aufgespürt. Das gilt insbesondere für die Drogenkriminalität, die in diesem Jahr einen neuen traurigen Rekordwert erreichen dürfte. Bereits im vergangenen Jahr war in Stuttgart mit 4532 Delikten der höchste Wert der vergangenen 30 Jahre erreicht worden. Zum Vergleich: 1987 waren es 978 Delikte, im Jahr 1990 wurde die 2000er-Marke überschritten. „Besonders bei Erwerb und Besitz gibt es eine Steigerung“, sagt Polizeisprecher Thomas Doll, „und meistens ging es um Cannabis.“

Vieles ist sozusagen Beifang. Unter Polizisten ist zu hören, dass es fast keine Kontrolle mehr gebe, bei der nicht irgendeine Droge gefunden werde. Vor ein paar Tagen beispielsweise hatte eine Streife in Möhringen die Insassen eines geparkten Autos ins Visier genommen – und am Ende bei zwei 20- und 21-Jährigen prompt 60 Gramm Marihuana sichergestellt.

Plötzlich sind viel mehr Spritzen in Gebrauch

Immerhin: Im Gegensatz zu früheren Jahren spielt Heroin bei der Drogenkriminalität inzwischen eine eher untergeordnete Rolle. Allerdings hat der Gebrauch von Spritzen deutlich zugenommen. Klaus Obert, der für das Thema Sucht zuständige Bereichsleiter bei der Caritas Stuttgart, berichtet von einem „sprunghaften Anstieg“ der ausgetauschten Spritzen. Vor drei Jahren hätten sie im Kontaktcafé High Noon im Jahr 40 000 bis 50 000 Spritzen umgetauscht. In diesem Jahr würden sie vermutlich auf 90 000 kommen – also etwa eine Verdopplung. „Wir können uns das nicht erklären“, sagt Obert. Könnte vielleicht wieder mehr Heroin in der Stadt im Umlauf sein? Das erscheint trotz der Entwicklung mit den Spritzen unwahrscheinlich.

„Es gibt vielleicht ein bisschen mehr Heroin“, sagt Ulrich Binder von der Drogenberatungsstelle Release, „aber das dürfte wohl nicht der Grund sein.“ Dass bei seiner Einrichtung innerhalb von zwei Jahren doppelt so viele Spritzen ausgegeben würden, liege daran, „dass sich die Klienten auch Substitutionsmittel spritzen“. Ähnliches beobachten die Straßensozialarbeiter der Ambulanten Hilfe, die mit ihrem Med-Mobil bei Wohnungslosen unterwegs sind. Außerdem habe sich offenbar der Gedanke durchgesetzt, dass man mit neuen Spritzen schwer wiegende Infektionen vermeiden kann.

Die Sache mit dem Himbeergeschmack

Dass die Abhängigen sich das Methadon inzwischen vermehrt spritzen, sollte eigentlich nicht sein. „Methadon ist mit einem Zusatz versehen, der das Spritzen verhindern soll“, erklärt der Stuttgarter Suchtmediziner Albrecht Ulmer. Es handele sich um eine Himbeerlösung. Diese in die Venen zu spritzen, sei gefährlich für den Körper. Der Zucker in der Himbeerlösung kann die Venenklappen zerstören.

Warum die Himbeerlösung dennoch zugefügt wird? Die Abgabe von spritzbaren Substitutionsmitteln ist laut Betäubungsmittelverschreibungsverordnung nicht erlaubt. Denn das Substitutionsprogramm soll den Ausstieg aus der Drogenszene ebnen – die Spritze gilt als Symbol der Abhängigkeit. Doch viele Süchtige seien das Spritzen gewöhnt, man spreche auch von einer „Nadelgeilheit“, sagt Ulmer. „Das ist Teil der Krankheit“, erklärt der Mediziner. Er hat allerdings die Erfahrung gemacht, dass Patienten, wenn sie individuell und eng betreut werden, vom Spritzen weggeführt werden könnten.

Der Substitutionsarzt behandelt seit 1988 in seiner Praxis Drogenabhängige. Vier Jahre später wurde Methadon in Deutschland offiziell zugelassen.