Andris Nelsons Foto: Marco Borggreve

Der lettische Dirigent Andris Nelsons war mit seinem City of Birmingham Symphony Orchestra in Stuttgart – und hat bewiesen, warum er immer noch als heißer Kandidat für den Chefdirigenten-Posten bei den Berliner Philharmonikern gilt

Stuttgart - Was für ein Anfang! Adagio, sehr langsam, dabei extrem gespannt beginnt am Dienstagabend im Beethovensaal die Ouvertüre zum Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“, hörbar ein Werk des noch jungen Beethoven. Wie eine Skulptur zeichnet der leicht gebeugte Mann am Pult, der immer irgendwie auf dem Sprung zu sein scheint, die Konturen der Musik, den Aufbau und die Struktur der Klänge in der langsamen Einleitung nach, und nachdem es im anschließenden Allegro mit einem Schlag laut geworden ist, ergießt sich bei den Russ-„Meisterkonzerten“ eine Welle der Energie von der Bühne des Beethovensaals hinab ins Publikum.

Da ist er: Andris Nelsons, 36, weltweit zurzeit einer der gefragtesten Dirigenten, und schon beim ersten Stück seines Stuttgarter Abends beweist er, warum er zu den heißesten Kandidaten für das Amt des Berliner Chefdirigenten zählte und immer noch zählt. Genauer, detailversessener und interessanter kann man Beethovens Werk kaum darbieten, und spätestens wenn der Lette mit zwei Fingern seiner linken Hand einen Flötentriller nachformt, ahnt man, wie sehr er das liebt, was er tut.

Nelsons ist einer, der brennt. Ein Gefährdeter also, und es mag auch damit zu tun haben, dass er den renommiertesten Posten in der deutschen Orchesterlandschaft im Vorfeld ablehnte: Für die Berliner Philharmoniker, so sein offizielles Argument, fühle er sich einfach noch nicht alt und reif genug.

Eine Spur zu groß mag Beethovens Ouvertüre besetzt gewesen sein, aber das City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen Chef Andris Nelsons bis zum Sommer noch ist, bietet sehr viel Präzision. In welche Sphären der Klangkultur Nelsons wohl mit einem noch besseren Orchester vordringen würde?

Bei Mozarts viertem Violinkonzert (KV 218) sitzen weniger Musiker auf der Bühne, und Solistin ist eine Landsmännin des Dirigenten, die mit 34 schon ganz oben angekommen ist. Mozarts vordergründig wenig virtuose Musik, die auch hier wieder auf hinterhältig-vertrackte Weise kompliziert ist, spielt sie jedenfalls mit gut dosiertem Vibrato und mit ebenjener Klarheit, Akkuratesse, Agilität und dezenter Ausdruckskraft, die es braucht, um sie zum Leuchten zu bringen.

Allein die Art, wie Skride im ersten Satz mit einem subtil eingeführten dritten Thema das zweite gleichsam außer Gefecht setzt, ist feinste Gestaltungskunst. Der Mittelsatz: ein Traum, den eine kurze, kaum bemerkbare Unsicherheit des Orchesters zu Beginn nicht am Schweben hindert. Und geradezu mustergültig demonstriert das Final-Rondo Einigkeit zwischen Geigerin und Orchester: Man tänzelt schnell miteinander, hält inne, um gemeinsam zu singen, und immer wieder halten die Partner in exakter Übereinstimmung den Atem an.

Dass der Wiener Kritiker Eduard Hanslick, der bei der ersten Aufführung von Anton Bruckners siebenter Sinfonie in seiner Heimatstadt nur „unabsehbares Dunkel“ vernahm, Ähnliches auch über Andris Nelsons’ Interpretation geschrieben hätte, darf man bezweifeln: Schließlich legt der Dirigent hier frei, wie klar und logisch Formen und Strukturen in diesem Stück angelegt sind, und man kann hören, wie sich Melodien bei Bruckner zwingend aus Harmonien ergeben. Das lebt, das bebt, und zwischen den Pianissimo-Streichertrillern des Beginns und dem Rondo-artigen Schlusssatz wogt der Klang in klaren Konturen auf und ab.

Nelsons formt ihn mit beweglichen Gesten. Im Orchester muss jeder Musiker denken, dass dieser Dirigent genau ihn am allerliebsten hat: so akribisch zeichnet Nelson in die Luft, was er hören will, und so sicher darf man sich sein, dass dort, wo er dies nicht tut, intensive Probenarbeit seinem Loslassen-Können vorangegangen ist. Spannungsaufbau funktioniert über sublime Veränderungen von Tempi und Dynamik. Der zweite Satz ergreift, hat aber nichts Weihevolles, und so wie schließlich im letzten Satz die Dissonanzen im Blech geschärft und die Spannung über die große Generalpause hinweg gehalten (und ausgehalten) wird: Das ist wirklich groß. Was für ein Ende!