Im Therapiegespräch: Arzt im Callcenter von Medgate in Basel. Foto: Medgate

Schweizer Ärzte zeigen erfolgreich, wie man Patienten versorgt, ohne sie zu sehen. Baden-Württembergs Ärzte wollen sich daran ein Beispiel nehmen.

Basel/Stuttgart - Das Haus Nr. 49 in der Baseler Dufourstraße muss man sich als modernen Pilgerort vorstellen. Seit Jahr und Tag gehen dort Suchende ein und aus. Auffällig viele reisen aus Deutschland an, Ärzte vor allem, aber auch Krankenversicherungsmanager und Investoren. Sie alle kommen, um zu verstehen, wie die Medizin der Zukunft aussehen könnte. Ihr Ziel ist Medgate, einer der führenden Anbieter von Telemedizin weltweit.

Das 1999 von Medizinern gegründete Unternehmen hat sich im dritten Stock des historischen Bürogebäudes niedergelassen. Die Räumlichkeit ist modern, aber unspektakulär eingerichtet, so wie man es von einem Callcenter erwartet. Doch wer hier anruft, will keine Waschmaschine bestellen. Die Menschen melden sich, weil sie krank sind und ärztliche Behandlung brauchen. Vom Fußpilz bis zum Herzinfarkt ist alles dabei.

Im Callcenter, aber immer öfter auch im Homeoffice stellt Medgate bis zu 80 Ärztinnen und Ärzte bereit. Diagnose und Therapie per Telefon, rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche – so lautet das Geschäftsmodell. Die Baseler sind damit überaus erfolgreich. Rund ein halbe Million Menschen in der Schweiz zählen zur Kundschaft, 2000 bis 3000 rufen täglich an, an Spitzentagen 4500 und mehr. Die meisten von ihnen haben sich für ein sogenanntes alternatives Versicherungsmodell entschieden: Sie kontaktieren im Krankheitsfall immer zuerst Medagte. Für den Verzicht auf die freie Arztwahl gewährt der Krankenversicherer einen Beitragsrabatt von bis zu 15 Prozent.

Versicherte sparen Geld – Versicherungen auch

Es ist eine Win-Win-Situation. Die Versicherten sparen bares Geld und können obendrein jederzeit ein niederschwelliges ärztliches Beratungs- und Behandlungsangebot nutzen. Auch die Versicherer sparen, weil weniger Patienten teures Ärztehopping betreiben. Medgate sortiert nämlich die Kundschaft. 50 Prozent benötigen nach der fernmündlichen Behandlung keine weitere Hilfe mehr. Die übrigen 50 Prozent werden vom Medgate-Arzt gleich auf den richtigen Behandlungspfad gesetzt, also etwa zum Facharzt geschickt oder ins Krankenhaus. Und im akuten Notfall schickt Medgate natürlich gleich den Rettungswagen.

Aber fernmündlich behandeln – kann das funktionieren? Muss der Arzt seinen Patienten nicht mit eigenen Augen sehen, ihn abhorchen, abtasten und riechen? „Unsere Ärzte lernen, mit den Ohren zu sehen“, antwortet Cedric Berset, Medgate-Vorstandsmitglied. Dazu würden sie theoretisch und praktisch geschult. Bei der Behandlung am Telefon könnten die Mediziner dann auf sogenannte Guidelines zurückgreifen. Es handelt sich um klare Handlungsanweisungen, die auf Monitoren erscheinen, die jeder Arzt vor sich hat. „So etwas nutzt jeder Pilot, der sein Flugzeug fliegt“, sagt Berset.

Die von Medgate entwickelte Guideline-Software liefert Informationen zu Krankheitsbildern und Symptomen. Sie weist beispielsweise auf wichtige Fragen hin, die man dem Patienten unbedingt stellen muss, um sicher diagnostizieren zu können. Ferner macht sie Vorschläge für die Therapie und Medikamentierung. Ferner gibt es ein ebenfalls IT-gestütztes Patientenmanagementsystem, das dem Arzt zusätzlich in seiner Entscheidungsfindung hilft.

80 Ärzte kümmen sich telefonsich um die Patienten

„Ich kann sagen, dass wir eine sehr sichere Medizin leisten“, sagt Berset. Und erklärt: „Es ist sehr wichtig, dass der Arzt seine Grenzen kennt. Er muss ein scharfes Bild des Problems haben. Wenn er es hat, darf er eine Empfehlung für den Patienten aussprechen. Wenn er es nicht hat, dann muss er ihn im Zweifelsfall an einen niedergelassenen Arzt überweisen.“ Das System scheint zu funktionieren, auch dank einer eigenen Qualitätssicherung unter Aufsicht der eidgenössischen Gesundheitsbehörden. Bisher sei Medgate noch nie wegen eines Behandlungsfehlers verklagt worden, so Berset.

Unter den 80 Ärzten, die Medgate beschäftigt, stammen knapp 20 aus Deutschland. Sie leben in Südbaden, pendeln über die Grenze nach Basel oder arbeiten von daheim aus. 2016 hat das die Ärztekammer Baden-Württemberg auf den Plan gerufen, weil deutsche Mediziner laut Berufsordnung bisher nur solche Patienten telefonisch behandeln dürfen, die sie schon aus der eigenen Praxis kennen. Bereits im Sommer reagierte das Kammerparlament und änderte mit großer Mehrheit das Berufsrecht. Es erlaubt nun – bundesweit einmalig – Modellversuche, „in denen ärztliche Behandlungen ausschließlich über Kommunikationsnetze durchgeführt werden“.

Ärztepräsident Ulrich Clever hat sich an die Spitze der Bewegung gesetzt. Seit Anfang April nimmt er Bewerbungen für entsprechende Modellprojekte entgegen, zur Genehmigung durch die Kammer. Es gebe rege Nachfrage, so Clever. Ärztevertreter hätten sich gemeldet, aber auch gewerbliche Anbieter von technischen Lösungen sowie weitere Interessenten. Auch wenn er noch keine Details nennen will – Clever scheint entschlossen, das Thema Telemedizin anzugehen. „Wir haben durch die Änderung unserer Berufsordnung bundesweit Zeichen gesetzt. Nun müssen Taten folgen“, sagt er. Man wolle aber niemanden unter Druck setzten. Patienten und Ärzte dürften für sich entscheiden, ob sie entsprechende Angebote nutzen wollen.

Clever hat verstanden, dass sich die Welt weiterdreht und im Zweifel nicht auf die deutschen Ärzte wartet. „Wir wollen als Ärzte in Baden-Württemberg nicht, dass unsere Patienten in einem Callcenter in Indien anrufen, um ärztlichen Rat einzuholen“, sagt er. Statt Indien hätte er auch Basel sagen können. Dort, bei Medgate in der Dufourstraße, war er schließlich auch schon.