Das Bahnhofsviertel gilt als die Schmuddelecke Frankfurts. Foto: Diemar

Das Frankfurter Bahnhofsviertel galt jahrzehntelang als herbe Mischung: Rotlicht- und Drogenmilieu, Bewohner aus aller Herren Länder. Seit einigen Jahren befindet sich das Quartier im Umbruch. Alles ist im Wandel.

Einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt hängt der Himmel nicht voller Geigen, sondern voller Gitarren. Cream Music heißt die Adresse, 1904 als Musikhaus Hummel gegründet. Die Ladenkasse ist von 1927. Dahinter hängt ein Quittungsdurchschlag wie eine Reliquie. „Elvis Presley hat 1958 bei meiner Großmutter eine Gitarre gekauft. Und noch heute kommen Rockstars aus aller Welt, um sich hier mit Instrumenten einzudecken“, sagt Inhaber Bernhard Hahn, genannt Bernie.Es ist nicht einfach, ausgerechnet in der Taunusstraße ein Geschäft zu führen. Sie gilt als die schmuddeligste Meile des Viertels. Die meisten Bordelle und zweifelhaften Bars sind hier versammelt. Zuweilen irren Junkies umher. Schlimmer als die Junkies sind die Dealer. Um sie zu vertreiben, ließ Hahn einfach Bands direkt vor dem Laden spielen.

Das Bahnhofsviertel war nicht immer die Schmuddelecke der Mainmetropole. Nachdem der Hauptbahnhof 1888 eröffnet war, wuchsen vor ihm Straßenzüge, die nicht nobler hätten sein können. Die Kaiserstraße als zentrale Achse wurde als prunkvoller Boulevard angelegt. Pompöse Gründerzeithäuser mit Säulen und Erkern schossen wie Pilze aus dem Boden. Im Erdgeschoss lockten elegante Geschäfte, darüber riesige Wohnungen mit Parkett und Stuck für das Bürgertum. Erstaunlich viele Häuser überstanden die Bomben des Zweiten Weltkrieges. Und dennoch ging es danach nur bergab. Das Quartier wurde zur zweifelhaften Vergnügungsmeile, vor allem für die amerikanischen Besatzungssoldaten. Zu den Bordellen kamen Dealer und Junkies. Mit den Drogen kamen Elend und Kriminalität. Trotzdem blieb das Bahnhofsviertel immer ein vitaler Ort. In einer winzigen Wohnung lebte Oskar Schindler, der Judenretter, bescheiden und zurückgezogen. Im nördlichen Teil des Quartiers ratterten die Nähmaschinen der vor allem aus Griechenland stammenden Pelzhändler. Was das Viertel in seinen schlimmsten Zeiten über Wasser gehalten hat, waren seine ausländischen Bewohner. Sie sorgten dafür, dass das Leben blieb.

Das Frankfurter Bahnhofsviertel als „place to go“

Nirgendwo in der Mainmetropole gibt es so viele kleine Lebensmittelläden mit einem derart breiten Angebot. Frischer Fisch und Meeresfrüchte, exotische Gemüse und Gewürze finden sich an praktisch jeder Ecke. Drei Moscheen, eine Kirche sowie die Niederlassung einer Freimaurerloge liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Irgendwann fand das Viertel zu neuem Selbstbewusstsein. Die Stadt entschied sich, ihre repressive Drogenpolitik aufzugeben, schuf Anlaufstellen wie Fixerstuben und Beratungsstellen. In der Kaiserstraße wurde wieder ein Markt abgehalten, eine aufgelassene Fabrik zum Künstlerhaus umgewidmet. Plötzlich kamen die Hipster. Schicke Restaurants und Szenebars wie das Plank oder das Pracht folgten. 2014 zählte die „New York Times“ das Frankfurter Bahnhofsviertel als einzigen deutschen Ort zu den „52 places to go“. Die Münchener Straße ist die lebendigste Straße im Quartier. Hier mischen sich uralte Adressen wie Pfeifen-Weider oder Schuh-Krolla mit türkischen Barbieren, pakistanischen Gemüsehändlern und afghanischen Krimskramsläden. Frisch gebrühter Tee wird über die Straße getragen. Die Münchener wirkt wie ein Basar - und mittendurch spuren die Tramlinien 11 und 12. Manche Adresse liegt gut versteckt wie das Modelabel Lockstoff der Modedesignerinnen Dagmar Krömer und Ursula Beeker in Hausnummer 45. Bitte klingeln! Durch eine schnöde Metalltür geht es ins Hinterhaus zu schicken Klamotten. „Das Bahnhofsviertel ist wie ein Dorf, hier kennt man praktisch jeden mit Vornamen“, sagt Dagmar Krömer, deren Atelier auf den Hof der Karmelitergrundschule blickt.

Hier sind Gastarbeiterkinder wie Dimitrios Dimiropoulos groß geworden. Heute stellt er seine Fotografien in einer temporären Off-Galerie in der Kaiserpassage aus, wo auch die Bilder des Kiez-Fotografen Ulrich Mattner hängen. Keiner weiß, wie lange die etwas heruntergekommene Passage als Gratis-Museum fungiert. Irgendwann soll hier alles neu und schick werden. „Die Macht der Kultur gegen die Kultur der Macht“, lautet das Motto der Buchhandlung Südseite, einem Mekka für Bibliophile. Einen Katzensprung entfernt findet sich mit dem English Theater das größte englischsprachige Theater Kontinentaleuropas. Das Bahnhofsviertel ist ein Ort in Bewegung, ein Platz des Flüchtigen und Fremden. Dazu zählen auch die Reisenden. Nirgendwo in ganz Europa ist die Hoteldichte größer. Über 5000 Gästebetten in allen Kategorien, vom einfachen Hostel bis zur Luxusherberge, wurden zuletzt gezählt. Zu Messezeiten sind die Preise hoch. Den Rest des Jahres über sind die Betten bezahlbar. „Klar, das Bahnhofsviertel ist nicht gerade das Revier von Chorknaben. Aber es wird attraktiver“, sagte Bernie Hahn von Cream Music. „Denn das Quartier vermittelt echtes Weltstadtgefühl.“