Stefan ist erst 22 Jahre alt, aber oft so erschöpft, dass fast nichts mehr geht Foto: Leif Piechowski

Kaputt ist jeder mal. Doch bei immer mehr Menschen wird die Erschöpfung zum Dauerzustand. Oft werden sie falsch oder gar nicht behandelt – denn für Forschung ist kein Geld da.

Kaputt ist jeder mal. Doch bei immer mehr Menschen wird die Erschöpfung zum Dauerzustand. Oft werden sie falsch oder gar nicht behandelt – denn für Forschung ist kein Geld da.

Stuttgart - Wie soll ein 22-Jähriger seinen Freunden erklären, dass er zu erschöpft ist, um mit ihnen um die Häuser zu ziehen? Dass er sich körperlich am Ende fühlt, ohne zu wissen, warum? „Ich war früher einer, der immer raus wollte“, sagt Stefan, „doch in eine Disco kann ich nicht mehr gehen.“ Arbeiten kann der junge Mann aus Stuttgart nur zwei, drei Stunden pro Tag in einem leichten Bürojob. Das Freiwillige Soziale Jahr in einer Behindertenwerkstatt, das er nach dem Abitur begonnen hatte, musste er abbrechen. Sein Gesicht ist blass, Augenringe zeichnen sich ab.

Stefan leidet am Chronischen Erschöpfungssyndrom, nach dem englischen Begriff Chronic Fatigue Syndrome CFS genannt. Die Betroffenen eint eines: Sie fühlen sich unendlich kaputt. „Es ging nach dem Abi los“, erinnert sich Stefan. Konzentrationsschwierigkeiten, enorme Müdigkeit, inzwischen trotz der Erschöpfung Schlafprobleme. Am Anfang habe er noch gedacht, das sei normal, so der 22-Jährige. Dann jedoch wurde ihm klar, dass er krank ist: „Die guten Tage, an denen ich fit war, wurden immer weniger, bis es keine guten Tage mehr gab.“

Mit dem mittlerweile weithin bekannten Burn-out, das zumeist eine Folge beruflicher Überlastung ist, hat Stefans Zustand freilich nichts zu tun. „Ich war auch bei einer Psychiaterin, es war aber schnell klar, dass ich auch nicht an einer Depression leide. Ich will ja etwas tun, kann aber körperlich nicht“, erzählt er. Im Blutbild war nichts zu finden. Irgendwann bekam er den Namen eines Stuttgarter Arztes, der sich mit CFS auskennt. Die Wartezeit für einen Termin betrug Monate. Verschiedene Therapieversuche, etwa mit Nahrungsergänzungsmitteln, die die Krankenkasse nicht bezahlt, begannen. Doch bis heute weiß der junge Mann nicht genau, woher seine enorme Müdigkeit kommt. „Ich weiß jetzt immerhin, was es alles nicht ist“, sagt er mit bitterer Stimme.

Wie Stefan geht es nach Schätzungen mindestens 300 000 Menschen in Deutschland, darunter etwa 80 000 Kinder. „Und die Zahlen steigen erschreckend“, sagt Edelgard Klasing. Auch die Bundesvorsitzende des Vereins Fatigatio, der das Problem CFS bekannter machen will, betont, dass es sich um keine psychische Geschichte handle: „Die Menschen sind organisch krank, das sagen zahlreiche Studien weltweit.“ Dennoch blieben „80 bis 90 Prozent der Erkrankten in Deutschland unversorgt“.

Meist beginnt die Erkrankung mit einem Infekt

Wie sie sich fühlen, fasst Edelgard Klasing mit einem einfachen Bild zusammen: „Wie ein Auto ohne Benzin. Das kann ohne Energie nicht mehr fahren. Und bei CFS ist der Körper nicht mehr in der Lage, die Nahrung in Energie umzuwandeln.“ Die Gründe für diesen Zustand können vielfältig sein, das macht die Diagnose so schwer. Etwa die Hälfte der Erkrankten habe einen Immundefekt, sagt Klasing. Meist beginnt die Erkrankung mit einem Infekt. Sie sieht auch Umwelteffekte als mögliche Ursache, denn die ersten Fälle seien erst in den 1960er Jahren in den USA aufgetaucht.

Viele Ärzte sind mit der Diagnose überfordert – weil es dafür bisher keinen beweisenden Test oder eine eindeutige Untersuchung gibt und sie oft mit der Krankheit nicht vertraut sind. Doch das ist nicht das einzige Problem. Die Krankenkassen bezahlen meist die Therapien nicht. Sie genehmigen höchstens Antidepressiva, die den Betroffenen oft nicht helfen oder ihren Zustand verschlimmern können. Und in manchen Fällen führt die Unkenntnis über das Krankheitsbild noch zu ganz anderen Folgen. „Wenn Kinder wegen ihrer Erschöpfung nicht zur Schule gehen können, wird den Eltern mit Sorgerechtsentzug gedroht“, weiß Klasing.

Sie bemängelt, dass es trotz der hohen Patientenzahlen kaum jemanden gibt, der sich für die Betroffenen einsetzt. „Wir brauchen ein Zugpferd, damit wir mehr Gehör finden“, sagt Klasing. Denn Veränderungen, die Hoffnung machen können, müssten aus dem Gesundheitssystem kommen. Politik und Unikliniken müssten sie anschieben. „Wir brauchen flächendeckend in Deutschland Ambulanzen und viel mehr Forschung.“ Der Pharmaindustrie hingegen fehle das Interesse, weil das Bewusstsein für die Schwere und Häufigkeit der Erkrankung kaum vorhanden sei und es wenig Experten gebe, die sich um die Krankheit kümmerten.

Dass den Erkrankten die Lobby fehlt, weiß auch der wohl prominenteste Betroffene in Deutschland. Olaf Bodden schoss für 1860 München in der Fußball-Bundesliga Tore am Fließband, galt als hoffnungsvoller Stürmer für die Nationalelf. Bis er 1996 am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankte. Nach seinem Comeback Monate später erlitt er einen Rückfall und kam nie mehr auf die Beine. Diagnose: Chronisches Erschöpfungssyndrom. Seither kämpft er um seine Gesundheit, erlitt zuletzt einen schweren Rückschlag, als er ein neues, vielversprechendes Medikament nahm, um sein Immunsystem herunterzufahren. Es zeigte unerwartete Nebenwirkungen. Seither ist er bettlägerig.

In die CFS-Forschung fließt kein Geld

„Ich kann keinen Meter mehr gehen“, sagt Bodden. Er vermutet, dass es Jahre dauern wird, bis er sich von den Folgen der Behandlung erholt. Bei ihm, so viel ist immerhin klar, löst ein Virus den schlimmen Zustand aus. Genauso klar aber ist für Bodden, dass das deutsche Gesundheitssystem krankt: „Es fließen genau null Komma null Euro in die CFS-Forschung. Wenn es nur zehn Prozent von dem Geld gäbe, das für andere Krankheiten da ist, wäre das Problem zu lösen.“ Ziel müsse sein, endlich herauszufinden, wo die Auslöser lägen, und aus diesen Erkenntnissen Medikamente zu entwickeln. „Stattdessen findet man bisher nur die Symptome im Körper, aber nicht das eigentliche Problem“, klagt der 45-Jährige, der inzwischen sogar selbst versucht, Gelder für die Forschung zu sammeln.

Die Hoffnungen vieler Betroffener ruhen auf Carmen Scheibenbogen. Die Ärztin ist stellvertretende Direktorin des Instituts für Medizinische Immunologie an der Berliner Charité. Sie gilt bundesweit als Spezialistin. In ihre Ambulanz für Immundefekte kommen zahlreiche Erkrankte aus der ganzen Republik. Auch Stefan ist schon dort gewesen. „Auf Universitätsseite sind wir die Einzigen in Deutschland, die sich mit CFS befassen“, sagt sie. Das sei insofern erstaunlich, da es zwar noch viele Krankheiten gebe, die man nicht gut kenne, es allerdings bei kaum einer so viele Erkrankte gebe wie beim Chronischen Erschöpfungssyndrom.

Carmen Scheibenbogen unterstützt die Forderung nach bundesweiten Ambulanzen: „Sprechstunden für HIV oder Diabetes gibt es ja auch an jeder Universität.“ Allerdings sei die Frage, wer dafür bezahle, eine schwierige. Mit der Politik hat die Ärztin bisher mäßige Erfahrungen gemacht. Mehrere Anläufe, im Gesundheitsausschuss des Bundestages sprechen zu dürfen, sind nicht erfolgreich gewesen. Auch Förderanträge stoßen beim Gesundheitsministerium auf keine große Resonanz. Jetzt will die Professorin versuchen, über Kooperationen mit Biotechfirmen Therapiestudien und die Suche nach einem klaren Diagnosemarker auf den Weg zu bringen. Eine erste Förderung über das Land Berlin gibt es bereits.

Stefan hat gemeinsam mit weiteren Betroffenen aus der Region Stuttgart eine neue Selbsthilfegruppe auf die Beine gestellt. Dort will er andere unterstützen und sich selbst Rat holen – so gut die Kraft das eben zulässt. „Ich versuche, mir meine Energie besser einzuteilen“, sagt er. Und hofft darauf, bald eine Ausbildung in einer Reha-Einrichtung in Teilzeit beginnen zu können. Drei bis vier Stunden am Tag, so lange soll die Kraft irgendwie reichen.

Die Freunde haben inzwischen eine Vorstellung davon, wie es ihrem Kumpel geht. „Manche verstehen jetzt, dass es nicht an ihnen liegt, wenn ich wieder einmal absagen muss oder mich nur am Nachmittag mit ihnen treffen kann“, sagt der 22-Jährige. Doch die Sehnsucht nach den guten Tagen bleibt. Den Tagen, an denen er fit gewesen ist.

www.fatigatio.de