Im Jahr 2005 hat Christo den Reichstag verpackt Foto: © Christo + Wolfgang Volz

Der Theodor-Heuss-Preis ist eine besondere Ehrung, eine Auszeichnung, die auf Inhalte zielt. Und für Christo ist es ein Wiedersehen mit Stuttgart – 1974 war er der junge Star der Schau „Schaufenster“, einer der ersten in den Stadtraum ausgreifenden Themenausstellungen von Tilman Osterwold.

Der Theodor-Heuss-Preis ist eine besondere Ehrung, eine Auszeichnung, die auf Inhalte zielt. Und für Christo ist es ein Wiedersehen mit Stuttgart – 1974 war er der junge Star der Schau „Schaufenster“, einer der ersten in den Stadtraum ausgreifenden Themenausstellungen von Tilman Osterwold.

Wer ist Christo?

Stuttgart – „Kunst bricht auf“ ist das Motto zur Vergabe des diesjährigen Theodor-Heuss-Preises. Und Aufbruch bestimmt fürwahr das Leben wie das Werk des US-amerikanischen Objektkünstlers Christo. Am 13. Juni 1935 als Christo Javachev in Bulgarien geboren, studiert er von 1952 bis 1956 an der Kunstakademie in Sofia. Das Spiel von Schein und Sein lernte er schnell: Als Fassadenmaler entlang der bulgarischen Teilstrecke des Orient-Expresses gaukelt er den Reisenden die schöne neue Welt des Sozialismus vor. Mehr noch: Den Bauern lernt er mit Studienkollegen Heuballen und Erntemaschinen so anzuordnen, dass der Eindruck steten Ernteerfolgs simuliert werden kann. Ein Studienaufenthalt in Prag bietet 1956 die Chance zur Flucht in den Westen – im verplombten Eisenbahnwagen.

Über Wien kommt Christo Javachev 1958 nach Paris, schließt sich den „Nouveaux Realistes“ an und verpackt Stühle und Verkehrszeichen in durchsichtiger Folie. Auf den Bau der Berliner Mauer antwortet er 1962 in Paris mit einer Straßenblockade durch einen Ölfässer-Wall.

1964 nach New York übergesiedelt, konzentriert sich Christo mehr und mehr auf langjährig vorbereitete Einzelwerke, unter denen die Verpackung der Pariser Brücke Pont Neuf (1985) und das „Umbrella Project“ mit 1760 gelben Schirmen in Kalifornien und 1360 blauen Schirmen in Japan weltweit am meisten Beachtung finden.

Christo und Jeanne-Claude

Jeanne-Claude Denat De Guillebon, Tochter eines französischen Generals, wird ebenfalls am 13. Juni 1935 geboren – in Paris. Dort auch heiratet sie den bulgarischen Emigranten 1959 und wird spätestens mit dem Umzug nach New York zur zentralen Figur der Christo-Projekte. Sie ist bis zu ihrem Tod 2009 in New York Präsidentin der „C.V.J. Company“, als deren Angestellter Christo bis 1995 im Jahr 25000 Dollar verdient.

Jeanne-Claude forciert Produktion und Verkauf von Zeichnungen und Collagen Christos – mit den Erlösen finanziert das Paar das jeweils nächste Projekt. Jeanne -Claude ist die Schaltstelle im Christo-Reich, agiert als Verhandlungsführerin, Agentin und Pressesprecherin. So beharrt sie fast drei Jahrzehnte auf der Solo-Rolle Christos. Jeanne-Claude macht Christo zu einem buchstäblich singulären Produktnamen. Erst in den 1990er Jahren – und im Zuge der (Wieder)Entdeckung der Künstlerpaare – bekennt sich Jeanne-Claude zu ihrem konzeptionellen Anteil an Arbeiten wie „Surrounded Islands“ (die Verpackung von elf Inseln in den Everglades vor Miami/USA mit rosa Hüllen) oder dem für das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschland wegweisenden „Wrapped Reichstag 1971-1995“.

Wrapped Reichstag

1971 schickt der Bauhistoriker Michael Cullen dem Künstlerpaar Christo & Jeanne-Claude eine Postkarte des Reichstagsgebäudes in Berlin. Christo ist fasziniert von dem Gebäude, den Proportionen, der singulären Position in Berlin. Dieses Gebäude soll Skulptur werden. Bis zur Realisierung aber vergehen 23 Jahre. Heftig wird in den frühen 1990er Jahren im nun schon Berliner Bundestag über das Projekt diskutiert, das gesamte Reichstagsgebäude zu verhüllen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl ist strikt dagegen – und wird 1994 durch einen abschließenden Bundestagsentscheid überstimmt. „Wrapped Reichstag“ kommt – und wird zum Triumph.

Der erste Eindruck ist so überwältigend, wie von Christo und Jeanne-Claude vorgesehen: Der Blick von der Entlastungsstraße über den seinerzeit zehntausendfach bevölkerten Platz der Republik streift über einen graublau glitzernden, von horizontalen Seilverspannungen in der Bewegung gebändigten Vorhang. Und gerade so, als seien nicht die Regeln der Zentralperspektive außer Kraft gesetzt, konzentriert sich das Auge auf eine von zwei dominierenden, schlanken vertikalen und einer zentralen Dreiecksform gebildeten Mitte. Diese Focussierung hilft über die Irritation hinweg, kein Volumen wahrnehmen zu können. Der Faltenwurf der den Reichstag verhüllenden Stoffbahnen nimmt dem Baukörper alle Schwere.

Eng führt seinerzeit der Weg an den Flanken des Werks vorbei. Zum Spreekanal hin stolpert man geradezu über die Symbolkreuze für die Toten gescheiterter Fluchtversuche von Ost nach West; am Tiergarten entlang – und an steinerner Erinnerung an die von den Nazis ermordeten sozialdemokratischen und kommunistischen Politiker vorbei – blickt man auf ein sich rund um das Brandenburger Tor konzentrierende Volksfest. Budenzauber dank der Kunst, für die Kunst. Autorisierte Händler bieten Christo-Grafiken an, deren Erlös für die Finanzierung des Projekts dringend gebraucht wird.

Den Höhepunkt von „Wrapped Reichstag“ erlebt im Frühjahr 1995, wer am Großen Stern die Stufen zur Aussichtsplattform der Siegessäule hinaufsteigt. Die Realität des von Christo und Jeanne-Claude gewählten Gebäudes ist endgültig abgelöst von der Realität des von ihnen geschaffenen Werks. Die dritte Republik verabschiedet die Ungewissheit über Wesen und Funktion des Reichstagsgebäudes mit der lächelnden Zuversicht einer von den Zwängen des Kalten Krieges befreiten jungen Demokratie.

Intensiver, schöner, unvergesslicher kann man den zum Motto des diesjährigen Theodor-Heuss-Preises gewordenen Anspruch „Kunst bricht auf“ nicht einlösen.

Christo in Stuttgart

1972 ist Christo von dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann zur Weltkunstausstellung Documenta V in Kassel eingeladen. Szeemann überschreibt den zentralen Teil seiner Documenta mit dem Titel „Individuelle Mythologien“. Raumgreifende Arbeiten entstehen – auch von Christo.

Ein junger Kunstwissenschaftler ist begeistert – Tilman Osterwold. Von 1973 an Direktor des Württembergischen Kunstvereins Stuttgart (Kunstgebäude am Schlossplatz, seinerzeit eines der größten Foren für Gegenwartskunst bundesweit), fragt Osterwold bei Christo nach, ob er sich vorstellen kann, an einer Themenausstellung teilzunehmen. Christo sagt zu. Ja, mehr noch. Ist für „Schaufenster – Die Kulturgeschichte eines Massenmediums“ zunächst die Verwendung der 20 Meter messenden Documenta-Arbeit Christos vorgesehen, lassen Christo & Jeanne-Claude für den Vierecksaal auf eigene Kosten im Vierecksaal eine doppelt so große Installation entstehen.

Zudem agiert Christo auch im Stadtraum – für die damaligen Verkaufsflächen des Möbelhauses Behr (durch die Galerie Behr selbst als Ort der Gegenwartskunst ausgewiesen) im Hindenburgbau gegenüber dem Hauptbahnhof entwirft Christo ein Schaufenster. „Es war eine wunderbare Zusammenarbeit“ erinnert sich Osterwold.

Auch eine Stuttgarter Galeristin engagiert sich früh für Christo – Brigitte March. Und wie Osterwold und March zeigt sich der Sammler Reinhold Würth auch von den Menschen Christo & Jeanne-Claude fasziniert. Mit der Professionalisierung des Kunstengagements am Würth-Stammsitz in Künzelsau (Museum Würth) und in Schwäbisch Hall (Kunsthalle Würth) entwickeln sich immer neue Christo-Projekte und Ausstellungen.

40 Jahre nach Tilman Osterwolds „Schaufenster“-Schau im Württembergischen Kunstverein Stuttgart erhält Christo an diesem Samstag nur unweit entfernt vom Kunstgebäude den Theodor-Heuss-Preis. Die Ehrung schließt den Kreis.