Zu Hause in der Fremde – aus dem (fiktiven) Tagebuch eines

Zu Hause in der Fremde – aus dem (fiktiven) Tagebuch eines Flüchtlings.

Mein Tagebuch, ich habe dich lange vernachlässigt. Doch nun muss ich dies hier zu Papier bringen. Vollkommen erschöpft und mit meinen Kräften am Ende bin am vorläufigen Ziel einer langen Reise angelangt. Einer Irrfahrt, müsste ich wohl besser sagen. Denn seit der Flucht aus meiner Heimat wusste ich nie, was als Nächstes kommt.

Von einem Auffanglager ging es in das nächste. Von einem Land in das andere. Nun bin ich hier in einem fremden Land unter fremden Leuten mit fremden Gebräuchen und einer fremden Sprache. Ich fühle mich so völlig hilflos, so ausgeliefert. Aber wenigstens bin ich in Sicherheit. In der Sicherheit einer Unterkunft mit vielen anderen Flüchtlingen, denen es genau so schlimm ergangen ist wie mir. Die Menschen in diesem Land sind gut zu mir. Sie helfen, wo sie können. Dafür bin ich ihnen unendlich dankbar.

Aber sie wissen nicht wirklich, was ich durchlitten habe. Sie können es gar nicht wissen, denn sie leben seit vielen Jahren in Frieden und Freiheit. Sie nennen mich eine Asylantin oder einen Flüchtling. Dabei bin ich nur ein Mensch in allerhöchster Not. Die schrecklichen Vorkommnisse in meiner Heimat rauben mir noch immer den Schlaf, lassen mich jede Nacht schweißgebadet und zitternd an Leib und Seele aufwachen.

Die Granaten haben meinen Mann und meine Eltern getötet. Nur ich und meine kleine Tochter konnten fliehen. Wenn ich sie nicht hätte – Gott allein weiß, was ich dann täte. Ich fühle mich entwurzelt, meines Glücks und meiner Hoffnungen beraubt. Alles habe ich verloren, meine Familie, mein Zuhause, meine Freunde, meinen Beruf, meine Heimat. Alles, was meinem Leben einen Halt und eine Mitte gab, ist mir genommen worden. Ich kann gar nicht sagen, wie verloren ich mir vorkomme. Manchmal denke ich, es wäre besser, auch ich wäre gestorben.

Ob ich jemals wieder werde Glück empfinden können? Ich weiß es nicht. Doch nun muss mein Blick nach vorne gehen. Ich bin es meinem Kind und mir schuldig. Für die nächsten Jahre wird dieses Land hier meine Heimat sein. Ein Land, dessen Sprache ich nicht kenne. Aber ich will sie lernen. Ich will auf die Menschen hier zugehen. Ich will mit ihnen zusammen leben. Sie sagen, es sind Millionen von Flüchtlingen, überall auf der Welt. Sie sagen, es würden immer mehr und jede Stadt und jeder Ort müsse uns helfen. Sie sagen, sie hätten lange genug nur zugesehen. Jetzt gebiete ihnen ihr Gewissen, für uns da zu sein. Sie unterstützen uns mit Geld und vielen nützlichen Dingen.

Sie haben uns willkommen geheißen. Diese Woge der Hilfsbereitschaft treibt mir immer wieder die Tränen in die Augen. Fast bin ich beschämt, weil ich ihnen nichts zurück geben kann. Oder vielleicht doch? Manche sagen auch, sie haben Angst vor uns. Ihnen möchte ich sagen, dass unsere Angst noch viel, viel größer ist. Wie könnten wir ihnen Böses tun, wo sie doch so viel Gutes für uns tun! Ich weiß nicht viel über ihre Religion. Aber sie sagen, sie glauben an einen Gott der Liebe. An einen Gott der Hilfe und der Vergebung. Wie gerne würde auch ich daran glauben können. Doch ich habe nur Hass und Gewalt, Vertreibung und Krieg kennen gelernt. An das Gute im Menschen glaube ich kaum noch. Aber vielleicht mein Kind? Ihm würde ich mehr als alles andere wünschen, dass es wieder an die Liebe glauben kann.

Vielleicht lernt es das hier in diesem Land! Vielleicht ist es eines Tages hier in der Fremde zu Hause. Vielleicht darf es eines Tages aber auch zurück in seine Heimat und es gibt dann auch dort Frieden, Glück und Sicherheit. Nichts wünsche ich mir mehr. Und ebenso wünsche ich mir, dass ich mit den Menschen hier in Frieden und Freundschaft leben darf. Dieser Gott der Liebe, an den sie glauben, möge das geben.

Ulrich Büttner ist Pfarrer der evangelischen Martinskirche Gechingen