Sebastian Kirsch (links), Teamleiter der Wohnungslosenhilfe, versucht unter anderem Dietmar Möhrle zu helfen. Foto: Klormann

Erlacher Höhe schlägt Alarm: kaum noch bezahlbarer Wohnraum in Calw. Mit Kommentar

Calw - Seit Jahren herrscht in Deutschland ein Bau-Boom. Ein Trend, der auch im Kreis Calw zu beobachten sei, wie das Landratsamt unlängst bestätigte. Das Sozialunternehmen Erlacher Höhe schlägt jedoch Alarm: Der soziale Wohnungsbau werde dabei sträflich vernachlässigt.

Irgendwann kann es jeden treffen: der Verlust des Jobs, der finanziellen Mittel und schließlich auch der Wohnung. Ein Albtraum, den schon viele Menschen durchmachen mussten. Und für die kaum bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht. Dietmar Möhrle ist einer von ihnen.

22 Jahre gearbeitet

22 Jahre lang hatte der Mittfünfziger als CNC-Fräser im Metallbereich gearbeitet, als die Firma, bei der er angestellt war, im Jahr 2007 Insolvenz anmelden musste. Das bis dahin gesicherte Einkommen war Vergangenheit. Möhrle schlug sich mit Ein-Euro-Jobs durch, machte sich später als Gartenpflegekraft selbstständig – bis zum Jahr 2010. Aus gesundheitlichen Gründen musste er aufhören. Schließlich verlor er seine Wohnung.

In den Jahren 2013 und 2014 nahm das Sozialunternehmen Erlacher Höhe in Calw ihn auf, half dabei, ein rund 15 Quadratmeter großes Zimmer in einer Wohngemeinschaft zu finden. Eine Option, mit der er leben konnte – bis er in diesem Jahr aufgrund einer Venenverstopfung einen Teil seines Beines verlor. Die Ärzte hatten keine Alternative zur Amputation mehr gesehen.

Seitdem sitzt Möhrle im Rollstuhl, kann kaum gehen. Und wäre eigentlich auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen. Eine solche zu finden, stellt sich als Hartz IV-Empfänger äußerst schwierig dar.

Auch Sebastian Kirsch, Teamleiter der Wohnungslosenhilfe der Erlacher Höhe, weiß das. Täglich wird er mit solchen Schicksalen konfrontiert, wenn er im Rahmen seiner Arbeit Menschen dabei hilft, ein Dach über dem Kopf zu finden. Eine Aufgabe, die immer schwieriger werde – denn während die Nachfrage nach vor allem günstigem Wohnraum stetig wachse, sei das Angebot vergleichsweise klein. Wer dann noch mit gewissen Einschränkungen zu kämpfen habe, habe am Ende die schlechtesten Karten.

"Wer zum Beispiel mit seinem Sozialarbeiter kommt, hat kaum eine Chance", erzählt Kirsch. Vermieter hätten häufig Angst, kein Geld von jenen zu bekommen, die sich eine Wohnung nicht ohne staatlichen Zuschuss leisten können – obwohl das Geld vom Staat stets zuverlässig komme. Ein weiteres Problem dabei sei jedoch auch die Bearbeitungszeit beim Jobcenter. Dort dauere es häufig ein bis zwei Wochen, bis die Zusage für das Wohngeld komme. Gebe es dann noch weitere Bewerber, die finanziell flüssiger seien, werde die Wohnung oft anderweitig vergeben. Was am Ende übrig bleibe, sei nicht selten Wohnraum, der "an der Grenze oder unter der Grenze des Menschenwürdigen ist", so der Teamleiter – beispielsweise verschimmelte Keller.

Die Folge: Während Wohnungssuchende im Jahr 2015 durchschnittlich 100 Tage übergangsweise in der Erlacher Höhe untergebracht gewesen seien, habe sich diese Zahl im Jahr 2016 auf 200 Tage verdoppelt. Kirsch: "Wir haben durchgehend eine Vollbelegung, zum Teil sogar eine Überbelegung." Auf den Wartelisten würden stets drei bis zehn Menschen stehen. Und auch die Notübernachtungszahlen seien innerhalb eines Jahres um ein Drittel in die Höhe geklettert.

Mittelerweile habe die Erlacher Höhe begonnen, selbst Wohnungen anzumieten oder sogar zu kaufen, um dem riesigen Bedarf nachzukommen. "Das kann aber nicht die Lösung sein", betont der Teamleiter – zumal auch diese Wohnungen nur Tropfen auf heißen Steinen seien.

Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Eine Antwort darauf gibt Wolfgang Sartorius, Vorstand der Erlacher Höhe: Die Nachfrage nach Wohnraum sei schlicht deshalb gestiegen, weil die Bevölkerung in Deutschland in den vergangenen Jahren um rund 2,5 Millionen Menschen gewachsen sei – und das nicht etwa wegen der Flüchtlingskrise. Ursache sei vor allem eine hohe Zuwanderung aus dem europäischen Ausland.

Erschwerend komme unter anderem hinzu, dass es immer mehr Ein- oder Zwei-Personen-Haushalte gebe. Und, dass in Deutschland seit dem Jahr 2009 etwa eine Million Wohnungen zu wenig gebaut worden seien.

Jährlich gebe es einen Bedarf von 140 000 neuen Mietwohnungen. Im Jahr 2015 seien jedoch beispielsweise nur 46 000 hinzugekommen – und das trotz des offensichtlichen Bau-Booms in Deutschland. Gebaut würden wiederum vor allem teure Wohnungen und Eigenheime.

Mieten stark gestiegen

Im sozialen Wohnungsbau hingegen "besteht ein extremer Handlungsbedarf", so der Vorstand. Nicht zuletzt, weil das durchschnittliche Einkommen in den vergangenen fünf Jahren um durchschnittlich acht Prozent gestiegen sei, die Mieten jedoch rund 17 Prozent zugelegt hätten. "Für Menschen, die nicht viel Geld haben, ist das fatal!", unterstreicht Sartorius. Er befürchtet: "Wenn sich das in der nächsten Legislaturperiode (des Bundestages, Anm. d. Red.) nicht deutlich verbessert, könnten dadurch auch radikale Parteien Boden gewinnen." Beim Thema Wohnungsbau sei schließlich "sozialpolitisch echt Sprengstoff drin".

Positiv, so der Vorstand, sei immerhin, dass die relevanten Parteien dies mittlerweile erkannt und auch in ihre Wahlprogramme aufgenommen hätten. Denn: "Wenn nichts passiert, werden wir in den kommenden Jahren erhebliche Probleme bekommen, Leute mit Wohnraum zu versorgen", erklärt Sartorius.

Kommentar: Hinter der Tür

Von Ralf Klormann

Hunderttausende Menschen in Deutschland haben Schwierigkeiten, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Deutlicher hätte die Botschaft der Erlacher Höhe in Calw kaum ausfallen können. Doch wer trägt die Schuld? Der Staat? Zumindest zum Teil – dieser hätte den sozialen Wohnungsbau längst verstärkt fördern können. Oder liegt die Verantwortung bei großen Immobilienmogulen, die des Profits wegen statt bezahlbaren Wohnraums teure Luxusobjekte errichten? Ja, auch das. Aber: All die Eigenheimbesitzer, die Wohnungen leer stehen lassen, obwohl sie diese günstig zur Verfügung stellen könnten, dürfen ebenfalls nicht vergessen werden. Wer zu dieser Gruppe zählt, sollte nicht mit dem Finger auf diese oder jene Akteure zeigen und nach Lösungen schreien. Sondern hinter der eigenen Tür kehren. Dort könnte bereits eine Lösung zu finden sein.