Drei Schüler aus der Migrantenklasse an der Gewerblichen Doertenbach-Schule in Calw erzählen von ihren Schicksalen

Von Martin Bernklau

Calw-Wimberg. "Ich wollte arbeiten, nicht kämpfen", sagt Noor und zeigt seine Schussnarbe am Fuß. Er stammt aus dem zerrütteten Somalia. Auch in Algerien ist der 1991 nach dem Wahlsieg der Islamisten ausgebrochene Bürgerkrieg noch nicht überall vorbei. Er hat das Land ruiniert, aus dem Imat und Yassin übers Meer nach Europa geflohen sind. Die drei 19-Jährigen gehen in eine der Migrantenklassen, die es seit dem vergangenen Schuljahr an der Gewerblichen Doertenbach-Schule gibt (wir berichteten).

Alle drei jungen Männer sind ganz alleine nach Deutschland gekommen: zunächst auf dem Seeweg übers Mittelmeer, wo in den vergangenen zehn Jahren schon mindestens 6200 Boots-Flüchtlinge ertrunken sind; wahrscheinlich weit mehr. Die jungen Algerier, inzwischen Freunde, sind vor kurzem vom Flüchtlingsheim Wildbad nach Zwerenberg umgezogen, wo sie gemeinsam ein Zimmer bewohnen. Sie stammen aus derselben Stadt, aus Oran, zweitgrößter Metropole am Mittelmeer nach der Hauptstadt Algier.

Die letzten Meter nach Melilla ist er geschwommen

Sie waren fast noch Kinder, 13 und 14 Jahre jung, als sie sich unabhängig voneinander auf eigene Faust auf den Weg aus dem Elend machten. Imat hatte fünf Brüder und fünf Schwestern. Er hat nie eine Schule besucht und konnte nicht einmal Französisch, die Amtssprache aus der Kolonialzeit. Aber neben der Berber-Nationalsprache Tamazight spricht er Arabisch so gut, dass er auch fernere Varianten in sein schon ganz passables Deutsch dolmetschen kann.

Ohne Wissen der Eltern und fast ohne Geld stieg er mit ein paar anderen in ein Ruderboot und erreichte die umzäunte spanische Exklave Melilla in Marokko vom Meer her. Die letzte Strecke schwamm er. Über Algeciras, Barcelona, das französische Lyon und Rom führte seine jahrelange Odyssee ihn schließlich per Schlepperauto und Trampen nach Hamburg, von da vor 18 Monaten in die Karlsruher Landesaufnahmestelle. Kontakt mit der Familie hat Imat nur gelegentlich über Internet zu einem Bruder, der im Tschad lebt.

Auch Imats Freund Yassin ergriff alleine die Flucht, mit 14. Die verarmte Familie mit vier Kindern hatte er mit ernähren müssen. Schule gab es nicht. Vier Jahre lang hatte er als Lackierer in Oran gearbeitet. Zusammen mit acht anderen Flüchtlingen brachte ihn ein kleines Zodiac-Schlauchboot direkt nach Algeciras. Zwei Jahre schlug er sich in Spanien irgendwie durch, ohne Asyl zu beantragen. "Viele Spanier haben mir geholfen", sagt er. Von einem Madrider Jugendheim aus gelangte er nach fünf Wanderjahren über Paris ebenfalls nach Hamburg. Auch er hat nur über einen Bruder sporadischen Handy- und Internet-Kontakt mit der Familie.

Imat hat Angst vor dem immer noch schwelenden Krieg, Angst um seine Familie. Er will vor allem arbeiten, egal was, und ihr von hier aus helfen. In Bad Wildbad unterstützte ihn eine deutsche Familie. Für Yassin gilt dasselbe. Aber er würde nach der Schule gerne eine Ausbildung zum Automechaniker machen.

Noor ist zwar erst 19, aber schon seit 2012 verheiratet. Allerdings musste er seine junge Frau Na-Fisa, seine Mutter und zwei Schwestern in der nordsomalischen Stadt Hargeiza zurücklassen, als er im vergangenen Jahr mit 800 ersparten Dollar nach Europa floh, über Äthiopien, den Sudan und Libyen. Die Mutter hatte ihm gesagt: "Geh nach Europa!" und war mit dem Rest der Familie in die weniger umkämpfte Hafenstadt Bosaso geflohen. Sein Vater war bei Kämpfen zwischen Clans erschossen, er selber verwundet worden. Im libyschen Tripoli bestieg Noor ein unmotorisiertes Schlepper-Schiff, das mit 120 Flüchtlingen überfüllt war. Ein italienisches Passagierschiff nahm die eigentlich schon todgeweihten Boat-People an Bord und brachte sie nach Tarent am Absatz des Stiefels.

Von Bari aus kam Noor mit einem Schlepper-Bus vor drei Monaten nach Frankfurt, wo ihn die Polizei aufgriff und über Gießen ebenfalls nach Karlsruhe schickte. Jetzt lebt er im Aufnahmeheim auf dem Wimberg. Kontakt nach Somalia hat er nur selten, über Facebook. Das Telefon dort ist abgestellt. Er hatte früher neben der Schule als Autowäscher etwas Geld verdient. Aber dann gab es "keine Arbeit mehr, nur Krieg", sagt er. Noor fährt gerne Autos und würde sich freuen, wenn er irgendwann als Fahrer oder im Traumjob Automechaniker seine Familie ernähren kann.