Foto: Schwarzwälder-Bote

Heimatverbunden. Heimatvertrieben. Heimatlos. Menschen stehen so oder so in einer tief

Heimatverbunden. Heimatvertrieben. Heimatlos. Menschen stehen so oder so in einer tief verwurzelten Beziehung zu den Orten, an denen sie ihre ersten Schritte ins Leben gemacht haben. Die Landschaft, die Häuser, die Bäume, Feste und Gewohnheiten, die Sprache, Menschen, die den eigenen Weg gekreuzt haben oder ihn ein Stück weit mitgegangen sind, Geräusche und Töne, Speisen und Getränke: All das speichert ein Mensch schon in frühen Jahren tief im Gedächtnis. Mit der Fülle dieser Eindrücke nimmt er Neues wahr, vergleicht, wägt ab, findet Besseres und Schöneres, oder findet’s nirgends so schön wie zu Hause – sei’s das echte oder das in der Erinnerung verklärte.

Unser Landstrich kennt ein Kommen und Gehen in seiner ganzen Geschichte. Gekommen sind zum Beispiel vor mehr als 300 Jahren Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Italien. In der Schweiz waren sie vorübergehend gestrandet und warteten bangend darauf, dass das Herzogtum Württemberg die Grenzen für sie öffnen würde. Ein unüberschaubar langer Zug von Menschen bewegte sich über die Alpen, mit wenig mehr bei sich als das, was sie auf dem Leib tragen konnten. Ihre Wohnorte in den Alpentälern hatten sie Hals über Kopf verlassen, weil sie wegen ihres evangelischen Glaubens um ihr Leben fürchten mussten. Letztlich zeigte die württembergische Regierung Großzügigkeit. Sie stellte den Waldensern Siedlungsflächen in den Grenzgebieten des Landes zur Verfügung, Dazu Baumaterial und Steuererleichterungen. In Neuhengstett, in Pinache und Serres, in Dürmenz und Nordhausen und an vielen anderen Orten bauten sie sich eine neue Heimat.

Gegangen sind vor allem im 19. Jahrhundert Armutsflüchtlinge. Menschen, die oft wegen Missernten das Wenige, was sie hatten, verloren hatten. Manche verwendeten ihre letzten Habseligkeiten, um die Überfahrt nach Nordamerika zu bezahlen. Andere machten sich zu Fuß oder per Donauschiff auf den Weg nach Osten. Gegangen aus Württemberg sind auch immer wieder Glaubensflüchtlinge: die Täufer und manche Gruppen, deren religiöse Überzeugung und Praxis nicht in das nüchterne Württemberg passte.

Gekommen sind nach dem Krieg Heimatvertriebene mit ihren fremden Dialekten und ihren für Schwaben ungewohnten Speisen. Gekommen sind dann später Arbeitssuchende, Gastarbeiter genannt, aus Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und aus der Türkei.

Unzählig viele Menschen sind zurzeit auf der Flucht. Ein Teil kommt bei uns an. Wir können nur ahnen, was sie hinter sich haben. Es wird eine riesengroße Aufgabe, mit ihnen so umzugehen, dass sie Boden unter die Füße bekommen. Alle, die Gekommenen und die Gegangenen, haben ihre Heimat zurückgelassen.

Da ist eine Wunde in der Seele. Mit Gewalt wurden sie vertrieben oder sie sind aus nackter Not aufgebrochen. Mit der einzig verbliebenen Hoffnung, wie sie der Esel von den Bremer Stadtmusikanten ausgesprochen hat: "Was Besseres als den Tod findest du überall". Alle aber haben etwas Heimatliches mitgenommen oder mitgebracht: ihre Sprache, ihre Kochrezepte, Kleidung, Lieder, ihren Glauben, ihre Feste – und beibehalten. Fast 200 Jahre lang haben die Waldenser inmitten ihrer schwäbischen Heimat die Sprache ihrer alten Heimat gesprochen. Die Heimat zu verlieren, war und ist schlimm. Neue Heimat zu finden und sich aufzubauen, gelang den Flüchtlingen nur dann, wenn sie etwas von dem verloren Gegangenen bei sich hatten und es pflegen konnten. Es versetzt einen in Staunen, wenn man sieht, wie viel Heimatliches Schwaben in Nordamerika oder in Russland über Jahrhunderte aufbewahrt haben.

Das, was in den vergangenen drei bis vier Jahrhunderten in Württemberg an Kommen und Gehen geschah, ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Wanderungsgeschichte der Menschheit. In der Bibel sind Erinnerungen an größere und ältere Flucht- und Vertreibungsgeschichten aufbewahrt. Etliche dieser Geschichten sind mit Abraham verbunden. Er ist das Urbild eines heimatlos Gewordenen. Ganze Landstriche durchwanderte er, um ein Fleckchen neue Heimat zu finden. Letztlich reichte es nur zu einem Stückchen "Gottesacker" für seine Frau Sara und ihn, was er sein eigen nennen konnte. Er hat viel Feindschaft und Ablehnung erlebt. Viele der Alteingesessenen trachteten ihm nach dem Leben oder zumindest nach seiner Habe.

In all diesen Geschichten wird ganz kurz auch von einem erzählt, der anders reagierte. Melchisedek hieß er. Er war König von Salem, also von Jerusalem. Als Abraham sich mit seinen Leuten der Stadt näherte, kam dieser Melchisedek nicht mit Polizei und Grenzwächtern heraus. Er ließ nicht zu, dass prügelnde Räuberhorden und Brandstifter sich der Fremden bemächtigten. Er kam dem Fremdling aus der Stadt heraus entgegen und brachte Brot sowie Wein mit und segnete ihn.

Gerhard Schäberle-Koenigs ist Pfarrer in Aichelberg