Sprecherin Sofia Flesch Baldin und Jan Bürger vom deutschen Literaturarchiv Marbach gestalten die Veranstaltung "Zeitkapsel 39 – Die Montagnola-Strategie" im Calwer Hesse-Museum zu einem eindrucksvollen Erlebnis. Foto: Fisel

Gedenken: Vor 70 Jahren wurde dem Schriftsteller der Nobelpreis verliehen. Nachlass birgt Schätze.

Calw - Hermann Hesse als großartigen Schriftsteller kennt jeder. Doch dass der berühmte Sohn Calws ein Akteur im Verlagswesen, ein Fürsprecher für gesellschaftliche Randgruppen sowie ein höchst planvoller Organisator war, dürfte vielen unbekannt sein.

Sich anhand bisher unveröffentlichter Dokumente an Wesenszüge Hesses zu erinnern oder sie vielleicht gar erst zu entdecken war das Anliegen von Felicitas Günther, Leiterin der städtischen Museen in Calw. Ganz bewusst hatte sie den etwas ungewöhnlichen Zeitpunkt der Veranstaltung "Zeitkapsel 39" am Samstagvormittag gewählt, denn just am 10. Dezember jährte sich die Verleihung des Literaturnobelpreises an Hermann Hesse zum 70. Mal. Auch der Ort der Jubiläumsveranstaltung inmitten der Ausstellung "Wert des Alters" in den Räumlichkeiten des Hesse-Museums war wohldurchdacht, hatte der Schriftsteller seine Auszeichnung doch in jener Zeitspanne verliehen bekommen.

Sofia Flesch Baldin und Jan Bürger beeindrucken durch ihren Vortrag

In Jan Bürger, Leiter des Siegfried-Unseld-Archivs in Marbach, und Sofia Flesch Baldin, professionelle Sprechkünstlerin und Rundfunksprecherin, hatte die Kulturwissenschaftlerin versierte Partner für diese vielversprechende Präsentation gefunden. Hesses Spuren in den Hinterlassenschaften der Verleger Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld näher zu beleuchten, insbesondere ihn als Literaturpolitiker zu zeigen, gelang den beiden Vortragenden in eindrücklicher, bisweilen nahezu bewegender Weise. Mit teils sehr persönlichen Aufzeichnungen wie Tagebucheinträgen, Briefen oder Telegrammen offenbarten sie bisher weitgehend unbekannte menschliche Züge des großen Literaten.

"Time capsules" – Zeitkapseln – hätte Andy Warhol seine Pappschachteln, in denen er Dinge für die Nachwelt sammelte und verschloss, genannt, erklärte Bürger seinen Zuhörern. Mit der Veranstaltungsreihe des Deutschen Literaturarchivs Marbach sollen verborgene Schätze aus Schriftsteller- und Gelehrtennachlässen ans Licht geholt werden.

Der Untertitel "Montagnola-Strategie" möge vielleicht recht provozierend und reißerisch erscheinen, doch solle auf diese Weise das Augenmerk auf Hermann Hesse als ebenso bedeutenden wie klugen Akteur in Literaturbetrieb und Verlagswesen der Nachkriegszeit gelenkt werden.

Suhrkamps ergreifende Schilderungen über seinen Aufenthalt im KZ

Zwischendurch eingestreute Fotografien, Zeitungsausschnitte oder Briefkorrespondenzen gestalteten die Veranstaltung nicht nur informativ und nachhaltig beeindruckend, sondern auch abwechslungsreich und amüsant. So folgten auf Peter Suhrkamps ergreifende Schilderungen über Gestapo oder seinen Aufenthalt im KZ mehr oder weniger plausible Erklärungen Hesses, warum er nicht persönlich zur Preisverleihung nach Stockholm kommen könne.

Detailreiche Beschreibungen eines menschlichen Antlitzes reihen sich an naturgetreue Aufzeichnungen der Tessiner Tier- und Pflanzenwelt. Umfassende Verknüpfungen zwischen Literaten aus aller Welt rund um den Suhrkamp-Verlag wechseln sich ab mit persönlichen Bekenntnissen zwischen zwei sich sehr nahestehenden Freunden.

Erstmals in dieser Deutlichkeit gezeigte Verbindungen zwischen Peter Suhrkamp, Siegfried Unseld oder Bernhard Zeller zu Bertolt Brecht, Thomas Mann, Martin Buber oder Erwin Ackerknecht – um nur einige wenige zu nennen – ließen ein mannigfaltiges Mosaikbild jener Nachkriegszeit entstehen, als auch die Literatur- und Verlagswelt Deutschlands in Trümmern lag, jedoch bereits unerschrockene schriftstellerische Neuanfänge gewagt wurden.

"Ich hoffe, es ist uns gelungen, Ihnen das Dreieck Autor- Verlag-Marbach aufzuzeigen, vor allem, welch prägende Rolle Hermann Hesse dabei spielte", beendete Bürger seine Ausführungen.

Der Applaus des Publikums bestätigte diese Hoffnung untrüglich.