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Aufreger: Jens Gnisa spricht über sein Buch und diskutiert mit 50 Calwern über ihre Sorgen und Ängste

"Das Ende der Gerechtigkeit. Ein Richter schlägt Alarm." So lautet der Titel eines Buches, verfasst von jemandem, der es wissen muss: Jens Gnisa, Vorsitzender des deutschen Richterbunds. Doch stimmt das wirklich?

Calw. Im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung der SRH Hochschule Heidelberg Campus Calw und der Volkshochschule Calw sprach Gnisa darüber, wie er zum Titel kam: Zuschriften aus der Bevölkerung hatten ihn dazu bewogen. Der Andrang von mehr als 50 Calwern machte deutlich, dass er den Nerv der Zeit traf. Die brisanten Themen im Überblick:

Raser Zwei Jahre auf Bewährung in Köln, drei Jahre in Bremen, jeweils wegen fahrlässiger Tötung, und lebenslänglich wegen Mordes in Berlin. Die Rede ist von Strafen, die wegen illegalen Autorennen verhängt wurden, bei denen Menschen ums Leben kamen. Doch solche Unterschiede im Strafmaß? Wie kann das sein? Wenn es nach Gnisa geht, dann gar nicht. Der Grund für diese große Diskrepanz ist, dass es bis jetzt keine höchstrichterlichen Entscheidungen gab, die festlegen, welche Strafen in solchen Fällen drohen sollen. Der Bundesgerichtshof hat mittlerweile aber entschieden, dass Bewährungsstrafen für einen solchen Tatbestand nicht mehr ausreichen.

Flüchtlinge Ein weiteres Aufregerthema des Abends war der Umgang der Bundesrepublik mit dem Thema Flüchtlingskrise. Zuallererst stand die Frage: Durfte Bundeskanzlerin Merkel die Flüchtlinge aus humanitären Gründen ohne Kontrolle ins Land holen? Eine juristisch strittige Frage, auf die es ebenfalls noch keine endgültige Antwort gibt. Gnisa äußerte sich jedoch kritisch. Das Publikum hatte hier einige Fragen, vieles ging auch schon in den Bereich Sicherheit über. So ist beispielsweise die Angst vor sexuellen Übergriffen nach der Silversternacht in Köln oder dem Mord an einer Freiburger Studentin groß. Gniesa verstand die Problematik, verwies aber darauf, dass keinesfalls ein Generalverdacht entstehen dürfe und außerdem bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung auch nicht von "Schuldig" gesprochen werden könne. Für das Publikum war es nicht leicht nachvollziehbar, dass trotz Zeugen mutmaßliche Täter wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Doch Gnisa verwies darauf, dass Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr relativ hohe Hürden nehmen müsse und immer einer genauen Einzelfallbetrachtung bedürfe.

Gnisa erläutert außerdem die Problematik, dass die Verwaltungsgerichte in Deutschland mit Einsprüchen gegen abgelehnte Asylanträge völlig überlastet seien, hatte aber ebenfalls keine Lösung bereit, da "man auch nicht genügend geeigneten Nachwuchs für weitere Stellen findet".

Ein weiteres großes Problem war, dass viele Angst vor Zuwanderung in die Sozialsysteme befürchten, ein Punkt, der laut Gnisa von der Regierung genau angeschaut und entgegengesteuert werden müsse.

Innere Sicherheit und Terrorismus Seit den Terroranschlägen nehmen die Sorgen in der Bevölkerung immer weiter zu. Gnisa appellierte daran, den Föderalismus der Verfassungsbehörden abzuschaffen, damit Ermittlungspannen wie im Fall des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt zu vermeiden und generell die Bearbeitung zu verbessern.

Dieselskandal Für viele ist der Dieselskandal ein großes Ärgernis. Auf Unverständnis stößt vor allem, dass VW-Fahrer in den USA entschädigt werden, in Deutschland dagegen hohe Hürden bestehen, um ebenso entschädigt werden zu können. Ein Umstand, den auch Gnisa kritisiert und hofft, dass der Bundestag mit einem Gesetz nachreguliert. Der Entwurf stehe, durch die Wahlen sei nun erst einmal die Regierungsbildung im Fokus, Gnisa hofft jedoch, dass dann schnell gehandelt wird.

Recht/Moral Gibt es "gute" oder "schlechte" Straftaten? Diese Frage stellt sich Gnisa immer häufiger, da er in Zuschriften oft damit konfrontiert werde, sei es in Zuschriften an ihn als Gerichtspräsident oder in Interviews. Er appelliert daran, dass solche Befindlichkeiten eine untergeordnete Rolle spielen müssten, man müsse neutral und nur an Recht und Gesetz gebunden urteilen können, ohne Anfeindungen befürchten zu müssen. Unpopuläre Entscheidungen in alle möglichen Richtungen werde es immer geben.

Gniesa appellierte außerdem daran, die Meinungsfreiheit wieder auf den Boden des Grundgesetzes zu stellen, da seiner Meinung nach immer häufiger kritische Stimmen einfach nicht mehr gehört beziehungsweise direkt angefeindet würden.

Nachvollziehbarkeit der Verhältnismäßigkeit Durch die Überlastung der Staatsanwaltschaften und Gerichte würden immer mehr Verfahren vorab eingestellt. Gnisa erläuterte die Gründe dafür: Verfahren seien in der heutigen Zeit immer komplizierter und schwerer zu verhandeln. Einen Seitenhieb teilte er auf Nachfrage in Richtung der Anwälte aus, deren Moral immer häufiger dazu überginge, sämtliche Rechtsmittel bis aufs äußerste auszuschöpfen. Probleme aus der Bevölkerung seien vor allem, dass beispielsweise Geldbußen bis aufs Äußerste verfolgt würden, die Ermittlungen bei Straftaten wie Ladendiebstahl dagegen häufig einfach eingestellt würden. Dies sei nicht nachvollziehbar. Hier verwies Gnisa wieder auf zu wenige Stellen. Die Arbeitskraft werde zudem oft durch größere und kompliziertere Fälle, deren Zahl zunehme, gebunden.