Gedichte vor anderen Menschen vorzutragen kostet Überwindung. Aber wenn man sich traut, so wie Berufs-Poet Lars Ruppel, kann man mit der Wirkung der Reime und Verse wahre Wunder vollbringen. Wie am Donnerstag im Haus auf dem Wimberg, als Ruppel mit seinen Workshop-Teilnehmern nicht nur die dortigen Demenz-Patienten "aufweckte". Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder-Bote

Volkshochschule schließt Leitthema "Demenz" mit einem wirklich bemerkenswerten Workshop ab

Von Axel H. Kunert

Calw-Wimberg. Es sind kleine Wunder, die sich da am Donnerstagvormittag im Gemeinschaftsraum der Pflegeeinrichtung Haus auf dem Wimberg zugetragen haben: Die ersten Zeilen eines alten Gedichts, vorgetragen mit viel Pathos und mimischer Theatralik von einem jungen Mann mit dicker Hornbrille – und ein Leuchten geht durch die zuvor wie eingefroren wirkenden Gesichter der Demenz-Patienten. Bis plötzlich eine von ihnen fehlerfrei "Dunkel war’s, der Mond schien helle" zu Ende rezitiert.

Der junge Mann mit Brille heißt Lars Ruppel. Er kennt diese Wirkung der teils längst vergessenen Gedichte auf Alzheimer-Patienten. "Weckworte" nennt er seine kleine ebenso poetische wie verblüffende Zaubershow, mit der er durchdringt durch das Dickicht des scheinbar totalen Vergessens. Und mit der er wie ein Ritter des geschliffenen Wortes seine eigene Mission für sich entdeckt hat, wieder mehr Menschlichkeit, Würde und eben Poesie in den sonst so von unendlich vielen Regeln, Pflichten und Vorschriften geprägten Pflegealltag zu bringen.

Im Haus auf dem Wimberg ist Ruppel an diesem Morgen auf Einladung der Volkshochschule Calw, die damit ihr großes Leitthema "Demenz" des vergangenen Semesters mit einem wirklich bemerkenswerten Angebot abschließen wollte. VHS-Geschäftsführer Sebastian Plüer hat den hauptberuflichen Poeten Ruppel durch eine Internet-Recherche entdeckt und in einem Youtube-Video die kleinen Wunder von dessen Weckworten gesehen. So entstand die Idee, einen Weiterbildungs-Workshops für Pflegekräfte und pflegende Angehörige auch im Haus auf dem Wimberg zu veranstalten.

Knapp zwei Stunden lang brauchte es nur, bis Ruppel aus den knapp zwei Dutzend Teilnehmern eine neue heitere Liebe zum gereimten Vers herauslockte und die anfängliche Skepsis der durchweg seit vielen Jahren erfahrenen Pflegekräfte in lachenden Enthusiasmus verwandelte. "Mit Sprache kann man sehr viele schöne Dinge machen", erklärt Ruppel. Um dann seine selbst komponierte, aberwitzige Reim-Kaskade "Alter Schwede" als Beispiel für die heitere Magie vorzutragen, mit der Reime und Gedichte die Menschen zum Lächeln bringen können.

"Die Alten haben ein Leben voller Gedichte", weiß Ruppel. Sie wurden einst in der Schule gepaukt. Und dann ein meist sehr langes Leben lang nie wirklich vergessen. Selbst die Alzheimererkrankung hat das nicht vermocht. Die Jungen, zumindest die Jüngeren, die sich in Einrichtungen wie dem Haus auf dem Wimberg um diese Alten kümmern, wissen das oft nicht. Und können sich dann aber der unvergleichlichen Wirkung nicht entziehen, die Ruppel mit seinen Gedichten erzielt, wenn schließlich tatsächlich auch ein gutes Dutzend Alzheimer-Patienten mit in den Schulungs-Raum geführt werden.

Erzählrhythmus, Grundlagen der theatralen Mimik – all das hat Ruppel in seinem Crash-Kurs für pflegende Gedichteerzähler seinen Schützlingen an diesem ganz unglaublichen Morgen beigebracht. So können auch sie bereits nach einem getanzten Gedicht von Ruppel selbst diesen Zauber ausführen und als Zauberlehrling erleben, wie die bis eben in der bröckelnden Erinnerung der Demenz verschütteten Verse mit geradezu magischer Macht an die Oberfläche geholt werden. Und wie sie dieses Leuchten in die Gesichter der Patienten bringen, wenn sie die alten Reime wiedererkennen und vielleicht selbst noch einmal aufsagen.

Gedichte seien ein probates Mittel, sagt Ruppel nachher in der Abschlussbesprechung, den Patienten ein "würdevolles und ethisch korrektes Leben im Alter" zu verschaffen. "Suchen Sie im Internet Gedichte zu bestimmten Stichworten", empfiehlt er. Man fände zu jedem Thema und zu jedem Patienten das passende. "Zerschneiden Sie es in kleine Häppchen, wie Sie ein Schnitzel zerschneiden würden für jemand, der keine Zähne mehr hat." Und: "Immer Augen- und möglichst oft Hautkontakt" halten, wenn man die Patienten mit einem Reim anspricht. Mehr brauche es nicht.

Dem zufriedenen Lächeln des Wort-Magiers am Ende des Workshops sieht man an, dass er mit dem Verlauf und dem Ergebnis seiner Vorstellung sehr glücklich ist. Und dem hintersinnigen Glitzern seiner Augen darf man wohl entnehmen, dass der von ihm entdeckte und geprägte Begriff der "Weckworte" sich keineswegs nur auf die Wirkung seiner Gedichte auf die Alzheimer-Patienten bezieht. Denn "geweckt" wurden auch die anwesenden Pflegekräfte.