Kilometerweit nur Sand – trotzdem musste Rafael Badziag auf der Halbinsel Djerba den Überblick behalten. Foto: Mauro Cottone; Montage: von Gottschalck

Leichtathletik: Trotz Knieverletzung gibt der Nagolder Läufer beim beim "Sahara Ultra 111" nicht auf - und humpelt ins Ziel.

Es war "das traumatischte Erlebnis" in seinem Leben: 111 Kilometer ist Rafael Badziag aus Nagold beim "Sahara Ultra 111" durch die tunesische Wüste gelaufen – den Großteil davon humpelnd. Am Ende zählte nur noch eines: irgendwie ins Ziel kommen.

Im Sommer 2010 hat Rafael Badziag das Marathon-Fieber gepackt – sozusagen aus einer Frühstückslaune heraus. Durch Zufall schaute er in seiner Nagolder Wohnung die Fernsehübertragung eines Marathonlaufs an. Die beiläufige Bemerkung des Kommentators, dass exakt 2500 Jahre zuvor die Schlacht von Marathon stattfand, die als Geburtsstunde der Disziplin gilt, ließ den gebürtigen Polen nicht me hr los. Noch am Frühstückstisch fasste er den Entschluss: Er will einen Marathon laufen, und wenn möglich noch im Jubiläumsjahr. "Ich wusste, dass man vier Monate braucht, um sich auf einen Marathon vorzubereiten. Also habe ich im Internet geschaut, wo in vier Monaten ein Lauf stattfindet", erinnert sich Badziag.

Das Problem: Vier Monate später war bereits November, die Marathon-Saison in Deutschland damit längst abgelaufen. Also dehnte der Nagolder seine Suche aus und wurde auf den historischen Jubiläumslauf in Athen aufmerksam, der genau in diesen Zeitraum fiel. Dass die Frist für die Online-Anmeldung seit Wochen abgelaufen war, störte den internet-affinen Badziag, der in Rohrdorf einen Fahrrad-Online-Handel betreibt, nicht weiter. Ein paar Klicks – und er war dabei.

In der griechischen Hauptstadt leckte Badziag Blut. "Ich brauche immer neue Herausforderungen", sagte sich der frischgebackene Marathonläufer schon damals und baute Kontakt zu Thomas Witteck auf, der nur einen Steinwurf entfernt in Emmingen wohnt. Mit dem erfahrenen Haudegen, der schon dreimal einen 100-Kilometer-Lauf in der Sahara gewonnen hat, nahm er 2013 an einem Wüsten-Lauf im Senegal teil – und landete sogar im vorderen Drittel.

Ein paar Monate später folgte ein 100-Kilometer-Lauf durch die Namib-Wüste. "Der war brutal", sagt Badziag noch heute voller Respekt, "50 Grad im Schatten, bloß gab es keinen Schatten. Den Leuten sind die Pulsmesser ausgefallen, weil die überhitzt waren."

Die bis dato härteste Herausforderung war jedoch der 80 Kilometer lange Metzger-Lauf im Sommer 2013 in seiner polnischen Heimat – benannt nach einem Lauf-Trainer, der seinem Spitznamen "Metzger" alle Ehre machte. Und genauso gestaltete sich auch der Streckenverlauf. Badziag: "Topografisch ähnlich wie der Schwarzwald, nur noch wilder. Da wollte man einfach nur überleben."

Badziag überlebte den Metzger-Lauf und suchte für dieses Jahr wieder einmal eine neue Herausforderung. Die konnte nur der "Sahara Ultra 111" sein – 111 Kilometer quer durch die Wüste auf der tunesischen Halbinsel Djerba.

Da die Veranstalter des "Sahara Ultra 111" aus Italien kommen, startete die Reise für die zwölf Teilnehmer am Flughafen von Mailand. "Ich habe in der Nacht vorher vor Aufregung kaum schlafen können", rekonstruiert der 41-Jährige den Beginn des Abenteuers. Er gibt zu, nicht optimal auf den Ultra-Lauf vorbereitet gewesen zu sein, zumal er sich drei Wochen zuvor bei einem Sturz an der Patellasehne verletzte. Eine Absage kam aber nicht infrage: "Das war nicht drin. Es war mein einziger Event in diesem Jahr, ich habe mich ein halbes Jahr darauf vorbereitet."

Doch das Glück war weiterhin nicht auf Badziags Seite: Der Flug in die tunesische Hauptstadt Tunis hatte wegen einem Maschinenschaden erheblich Verspätung, erst tief in der Nacht landete der Nagolder in Tunesien und hatte im Hotel nur eine Stunde Schlaf. Doch damit nicht genug: Am nächsten Tag wurden die Teilnehmer in der Oase Kgar Ghilane unweit des Startpunktes des "Sahara Ultra 111" nur in rustikalen Zelten untergebracht. Badziag: "Alles war voller Spinnen, Käfer und Ungeziefer. Das war dann meine dritte Nacht ohne Schlaf."

Umso mehr fieberte er auf den Start des "Sahara Ultra 111" pünktlich um 7 Uhr morgens hin. Und gleich die ersten Kilometer über kräfteraubende Dünen zeigten ihm, dass das kein Spaziergang wird. "Der Sand war so dünn, man wurde regelrecht eingesaugt", sagt Badziag, der nach 15 Kilometern aber ganz andere Probleme hatte: Die Patellasehne fing wieder an zu schmerzen. Dazu hatte der Nagolder die falschen Schuhe eingepackt, denn nach der Dünen-Passage wurde der Untergrund – anders als be seinem Wüsten-Lauf im Senegal – plötzlich steinig und dafür waren die Sohlen zu dünn. Riesige Blasen bildeten sich an seinen Füßen, aus denen schnell offene Wunden wurden. Badziag: "Ich weiß bis heute nicht, wie ich das geschafft habe. Bei jedem Schritt wurde der Fuß taub vor Schmerzen."

Nach 30 Kilometern – das Thermometer ist inzwischen auf über 30 Grad geklettert – wurde das Knie schließlich steif. Badziag konnte nur noch humpeln. "Mein ursprünglicher Plan war: 70 Kilometer laufen und dann mal schauen. Aber jetzt nach 32 Kilometern war ich schon total fertig. Da habe ich mir gesagt: Ups, das ist wohl in die Hose gegangen." Als ihn zwei Kilometer später auch noch die einzige Walkerin des Teilnehmerfeldes überholte, wähnte sich der humpelnde Badziag am absoluten Tiefpunkt.

Sechs Stunden nach seinem Start erreichte der humpelnde Badziag die Verpflegungsstation bei Kilometer 40. Neben der Motivation bereitete nun auch die Zeit Probleme, denn das Zeit-Limit liegt beim "Sahara Ultra 111" bei 22 Stunden. Wer bis dahin nicht im Ziel ist, wird disqualifiziert. Badziag war klar: "Das heißt, ich müsste mir noch mal 16 Stunden diese Qualen antun. Ohne Garantie, dass ich überhaupt ankomme. Und wenn, dann vielleicht nicht einmal innerhalb der Zeitvorgabe."

Badziag aber biss auf die Zähne, lehnte die angebotenen Schmerzmittel an der Versorgungsstation ab und sagte sich: Bis zur nächsten Station bei Kilometer 50 will er es auf jeden Fall schaffen. Wieder humpelte er sich Kilometer um Kilometer vor. "Ich habe nur noch davon geträumt, mich hinzulegen und zu entspannen." Groß war die Versuchung beim Erreichen der 50-Kilometer-Marke, das Wort "Schluss" in den Mund zu nehmen – doch Badziag ging weiter an seine Grenzen. Sein Rezept: "Ich habe mir über meinen MP3-Player Business-Vorträge angehört, um irgendwie auf andere Gedanken zu kommen."

Dass er zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Häufchen Elend war, blendete der Nagolder komplett aus. Stattdessen sagt er sich wieder und wieder: "Eigentlich bin ich noch nicht ganz am Ende." Wieder schleifte er seine Beine durch den Wüstensand, wieder war nur die nächste Versorgungsstation das nächste Ziel. Bei Kilometer 56 ein Hoffnungsschimmer: "Da hatte ich die Hälfte geschafft. Aber die Zeit wurde immer knapper. Mir fehlten etwa 20 Sekunden pro Kilometer, um die Zeitvorgabe einzuhalten." Das Massage-Zelt bei Kilometer 60 musste Badziag somit notgedrungen links liegen la sen. Eine Schale warmer Reis, die GPS-Uhr austauschen, dann ging es wieder auf die Piste.

Badziag kämpfte sich vor bis zur Versorgungsstation auf Kilometer 80. Mittlerweile brach die Dunkelheit herein und die Veranstalter schickten ein Quad auf die Strecke, das alle 20 Minuten nach dem Nagolder schaute. "Ich muss wohl schlimm ausgesehen haben", muss er heute lachen. In der tunesischen Wüste traute er sich inzwischen wieder zu, ein Stück zu laufen statt zu humpeln, musste aber jedes Mal nach 200 bis 300 Metern abbrechen. Als "totale Verzweiflung" beschreibt Badziag seine Gemütslage in dieser Phase. Die Veranstalter wollten ihm sogar in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit zum Aufgeben überreden – "aber ich habe gesagt, dass ich weitermache, solange eine theoretische Chance besteht."

Nach 90 Kilometern versagte neben dem Körper dann auch die Technik: Die Batterien seiner Stirnlampe machten schlapp, zum Wechseln hatte er weder Zeit noch Kraft. Badziag stand alleine in der dunklen Wüste. Doch der Nagolder fasste sich ein Herz, überwindet alle Schmerzen, fängt wieder an zu laufen. "Es ging. Nicht schnell, aber es ging."

Und tatsächlich: Bei Kilometer 100 war Badziag um Haaresbreite wieder in der Zeit. Der Körper zwar am Ende, doch das Ziel in greifbarer Nähe. "Den letzten Kilometer bin ich auf allen Vieren gelaufen", beschreibt Badziag und erreichte tatsächlich nach 21 Stunden und 30 Minuten die Ziellinie – als einer der sechs Teilnehmer, die nicht aufgegeben hatten. Lediglich drei Teilnehmer wurden während des "Sahara Ultra 111" nicht bewusstlos. Badziag war einer von ihnen. "Erst im Hotel wurde mir das Ausmaß dieses Horrors bewusst. Die Lobby sah aus wie eine Intensivstation."

Heute sagt Badziag: "Das war das traumatischte Erlebnis meines Lebens. Natürlich bin ich stolz, dass ich das durchgehalten habe, aber das war kein angenehmes Erlebnis." Und trotzdem, längst hat der Nagolder die nächste Herausforderung im Blick: "Das menschliche Gehirn ist so konzipiert, dass man die schlechten Dinge ausblendet. Ich mir schon Gedanken über 160 Kilometer.“