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Scharia-Räte arbeiten ganz legal überall in Großbritannien und haben, so umstritten sie sind, wenig mit dem finsteren Stereotyp gemein. Ein Ortsbesuch.

London - Wer an Scharia-Gerichte denkt, stellt sich meist eine Riege religiöser Hinterhof-Fanatiker vor, die Frauen steinigen lassen oder Dieben die Hand abhacken. Doch Scharia-Räte arbeiten ganz legal überall in Großbritannien und haben, so umstritten sie sind, wenig mit dem finsteren Stereotyp gemein. Ein Ortsbesuch.

Blühende Hortensien nebst Cabrios am Wegesrand und viel bürgerliches Reihenhaus-Idyll - so spießig sieht es aus vor der Tür einer Einrichtung, die viele Briten ganz weit oben auf die Liste der gefühlten Staatsfeinde setzen würden. Dass Mohammed Raza, Vorsitzender der britischen Scharia-Räte, hier im Londoner Westen hauptsächlich muslimische Frauen aus ihren Ehen "befreit", wäre für sie die zweite große Überraschung. Die dritte ist der Imam selbst: ein moderater, höflicher Mann mit einem großen Wunsch: "Es wäre prima, wenn mein Job überflüssig werden würde", sagt er, "wenn der Staat die religiöse Ehe der Frauen auflösen und ich den Rat schließen könnte."

Die Nachricht, dass in ihrem Land ein paralleles Rechtssystem operiert, traf die Briten im vergangenen Jahr wie ein Schlag. Rowan Williams, Erzbischof von Canterbury, hatte die Debatte um die Aufnahme von Elementen der Scharia in britisches Zivilrecht überhaupt erst ins Rollen und gleich zur Eskalation gebracht. Die Integration einiger Aspekte, so der Erzbischof, sei unvermeidlich, denn Scharia-Institutionen spielten im Leben vieler Muslime ohnehin eine zentrale Rolle. In der Tat sind viele der schätzungsweise 80 muslimischen - und jüdischen - Glaubensgerichte bereits seit Jahrzehnten im Dienst. Nur hatte das kaum jemand gewusst, wie man an den Reaktionen ablesen konnte. Zornige Rücktrittsforderungen flogen Williams um die Ohren, seine Ansichten provozierten heftige internationale Kritik und ein hysterisches Echo im Königreich.

Der kollektive Aufschrei kam kaum überraschend: Das moderne Großbritannien versucht noch immer zu verstehen, wie es vier islamistische Selbstmordattentäter hervorbringen konnte. Die Furcht vor unkontrolliert wucherndem Fundamentalismus, möglicherweise etwa in einer "Schatten-Scharia", ist seit dem Londoner U-Bahn-Anschlag von 2005 groß. Andere, auch Deutsche, finden schon die bloße Vorstellung unerträglich und unvereinbar mit ihrem westlichen Wertekanon.

Arbeit für den Imam: Scheidungswillige Frauen

So musste der bayrische FDP-Landtagsabgeordnete Georg Barfuß im November 2008 seine Ambitionen als Integrationsbeauftragter aufgeben, nachdem er gesagt hatte: "Wo sich die Scharia mit dem Grundgesetz als kompatibel herausstellt, soll sie in Bayern erlaubt sein."

Auf der Insel ist Barfuß' Idee längst Realität: Auf Basis des muslimischen Religionsgesetzes regeln islamische Schiedsgerichte und Scharia-Räte in nahezu allen Großstädten zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen Gläubigen. Über 300 Frauen rufen jedes Jahr allein die Dienste des Imam Raza an. Sie alle haben das gleiche Problem: Sie wollen sich scheiden lassen, bekommen aber für die religiöse Trennung nicht die nötige Zustimmung ihres Mannes.

Juristisch gültig ist zwar die zivilrechtliche Scheidung eines britischen Gerichts, doch will die Frau erneut eine Ehe im muslimischen Glauben schließen, braucht sie zusätzlich eine Bestätigung des Ex-Gatten. "95 Prozent unserer Fälle sind so gelagert, und meistens weigert der Mann sich, das Papier zu unterschreiben", sagt Raza. "Wir setzen dann einen Scheidungserlass auf, stellen ihn zu und lösen die Ehe auf. Die Männer können sich wehren und den Prozess hinauszögern, aber die Scharia regelt das klar: Will die Frau eine islamische Scheidung, dann bekommt sie die."

Der Imam ist nicht gerade glücklich mit dem Prozedere: "Ich mache diese Arbeit, um der Gemeinschaft zu dienen und weil ein großer Bedarf daran besteht." Doch am liebsten wäre es ihm, wenn die britischen Gerichte bei einer Scheidung die religiöse Ehe der Frauen gleich mit auflösten. Scharia-Regeln könnten so von britischen Beamten umgesetzt werden - das konkrete "Wie" sei Sache des Justizministers. "Muslimas hätten es dann jedenfalls einfacher", sagt er. "Viele sind hier aufgewachsen - sie finden es unfair, dass ihre britischen Freundinnen nur ein Scheidungsverfahren brauchen, sie aber zwei." Sie wollten so leben wie jede andere auch, betont Raza. Die Zusammenführung einiger, kleiner Aspekte des islamischen und britischen Rechtes wäre da in seiner Meinung sogar integrationsfördernd. Unter der Arbeitslast als ehrenamtlicher Scheidungsvollstrecker sehnt er sich eine solche Regelung für die Zukunft herbei: "Dann können wir hier schließen", hofft er.

Konflikte werden scharia-kompatibel gelöst

Auf Expansionskurs befinden sich derweil andere Scharia-Institutionen wie die Schiedsgerichte des "Muslim Arbitration Tribunal". Fünf solcher islamischen Rechtsbüros haben in London, Manchester und Birmingham eröffnet, weitere in Glasgow und Edinburgh sollen folgen. Ähnlich wie in deutschen Schiedsstellen setzten sich hier Imame und Anwälte mit Erbstreitereien, Geschäftsdisputen und privatem Kleinkrieg auseinander. Die Konflikte werden scharia-kompatibel gelöst, sofern die Beteiligten damit einverstanden sind. Die Entscheidungen haben im Königreich seit einem Jahr sogar rechtsverbindlichen Status.

Der allmähliche Aufstieg der Scharia zu einem Tandempartner der britischen Justiz ist allerdings nicht einmal allen Muslimen geheuer. "Viele Anhänger sagen, dass die Scharia in Großbritannien nur im Zivilrecht und nicht zum Steinigen angewandt wird", sagt Maryam Namazie von der Initiative "One Law For All" (Gleiches Recht für alle), "aber das Rechtsfundament ist doch dasselbe." Nichts bringt sie mehr in Rage als ein Imam, der die Scharia als frauenfreundlich auslegt: "Es gibt Fälle, da haben Schiedsgerichte den Brüdern doppelt so viele Erbanteile zugestanden wie den Schwestern, weil es eben ein Scharia-Prinzip ist." Die Gefahr sei, dass viele Muslimas ihre Rechte in Großbritannien nicht kennen und nicht wissen, wann sie benachteiligt werden.

"Es heißt, die Streitparteien müssen die Mediation freiwillig wollen", sagt Namazie, "aber viele Frauen haben gar keine Wahl, weil sie von zu Hause Druck bekommen." Die Iranerin kämpft vehement gegen die Scharia: "Viele Muslime sind vor genau diesen Gesetzen aus ihrer Heimat geflohen, und jetzt würgt man ihnen den Kram hier in Großbritannien rein", kritisiert sie.

Für einzelne Pro-Scharia-Stimmen wie die des Erzbischofs von Canterbury oder von Georg Barfuß hat sie kein Verständnis: "Ich finde solche Äußerungen geradezu rassistisch. Warum sollen für eine ethnische Minderheit andere rechtliche Standards gelten als die der Mehrheit? Westliche Scharia-Befürworter haben eine völlig fehlgeleitete Vorstellung von Multikulturalismus." Sie schätzt, dass die Mehrheit der zwei Millionen britischen Muslime der Scharia distanziert gegenübersteht.

Ob die Sympathien für ein solches islamisches Parallelsystem nur in akademischen Zirkeln bemühter, westlicher Rechtswissenschaftler gedeihen oder doch an einer breiten Basis, ist unklar, weil es kaum aussagekräftige Statistiken gibt. Für Namazie, die wegen ihrer Haltung ständig Übergriffe fürchten muss, ist jedoch eines sicher: "Die Scharia ist vor allem ein Instrument des politischen Islam, der überall auf dem Vormarsch ist."

In dem kleinen Reihenhaus, in dem Imam Raza aus schierer Notwendigkeit seinen Scharia-Rat leitet, würde an diesem Tag kaum eine Frau mit der Kritik Namazies übereinstimmen. Das Telefon im Sekretariat steht nicht still, alle Anrufe sind dringend. Bis der Imam ihre kaputte Ehe nach islamischen Standards aufgelöst hat, liegt das Liebesleben gläubiger Muslimas auf Eis. "Die Scharia", entgegnet der Imam den Anwürfen Namazies, "soll man nicht für etwas anklagen, das sie gar nicht ist. Aber vielleicht brauchen wir einfach mal eine große, offene Debatte zum Thema."