Gutachter sagt vor Gericht über die Frau aus, deren Tochter zu verhungern drohte: "Verminderte Schuldfähigkeit nicht auszuschließen"

Von Gert Ungureanu

Hechingen/Balingen. Außergewöhnlich: Im Prozess gegen das Elternpaar, dessen kleine Tochter wegen Unterernährung zu sterben drohte, haben gestern ein Kaminfeger und ein Elektriker ausgesagt – um zu beweisen, dass die 36-jährige Angeklagte nicht unter Putzzwang litt und sehr wohl Leute mit Schuhen ins Haus ließ. Sogar Handwerker. Etwas schwer tat sich der Verteidiger der Frau, als es um die Aussage der gesetzlichen Vormundin des kleinen Mädchens ging, die im Landratsamt arbeitet. Da seien "Seilschaften" am Werk gewesen, sagte der Anwalt: "Die Nachbarin hat es dem Landrat gesagt, und der hat das Jugendamt eingeschaltet."

Die Zeugin, für die es nicht die erste Vormundschaft ist, schilderte das Verhalten der Angeklagten: "Unsere Argumente sind nur bruchstückhaft bei der Frau angekommen, sie hat nur wahrgenommen, was sie wahrnehmen wollte". Dafür habe es Anschuldigungen gegeben, dass der Ehemann sein Kind verkauft habe, dass Arztberichte gefälscht worden und Unterlagen verschwunden seien, dass die Kleine "adoptiert" wurde und das Jugendamt"Kinderklau" betreibe.

Der Oberarzt der Reha-Klinik in Murnau schilderte die Entwicklung der Kleinen. Die Mutter sei durchaus kooperativ gewesen, habe dem Kind bei seiner motorischen Entwicklung geholfen und Ernährungsprotokolle geführt. Allerdings sei die Gewichtszunahme nicht ganz so befriedigend gewesen, und das Kind habe auch Süßigkeiten bekommen, die nicht auf dem Speiseplan standen. Daher seien Mutter und Kind bei jeder Mahlzeit Fachpersonal zur Seite gestellt worden. Seltsames Verhalten? Das Prosonal habe nicht ins Zimmer kommen dürfen. Ursprüngliches Ziel sei die Entlassung des Kindes in die Familie gewesen: "Wir wollten helfen." Schließlich habe das Familiengericht den Eltern das Sorgerecht entzogen.

Außergewöhnlich auch: Während des Aufenthalts in Murnau war die Mutter für einen Tag nach Balingen gekommen und hatte bei der Polizei eine Aussage gemacht – aus freien Stücken. Sie habe um eine Bestätigung gebeten, dass sie dagewesen sei. Um zu zeigen, dass sie nicht klammere und das Kind sehr wohl loslassen könne? "Es war, als würde sie aus einem Buch lesen, über jemand Anderen erzählen, monoton", schzilderte die 45-jährige Kripo-Beamtin die Aussage.

Der Tübinger Rechtsmediziner, der als Sachverständiger aussagte, hält es für ausgeschlossen, dass man dem Kind den kritischen Zustand nicht schon viel früher angesehen habe: "Die Mangelernährung ist über Wochen und Monate gegangen." Mit 15 Monaten habe die Kleine ausgesehen wie ein gerade mal sechs Monate altes Baby.

Am schwersten hatte es der Psychiater mit seinem Gutachten – denn keiner der Angeklagten hatte mit ihm sprechen wollen. Während er den 42-jährigen Angeklagten für durchaus schuldfähig hält, vermutet er bei dessen 36-jähriger Noch-Ehefrau eine Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und paranoiden Ansätzen. Argumente dafür: Sie habe verhindert, dass ein Arzt die Kleine anschaue, habe sie auch nicht in den Kindergarten gebracht: "Es war eine Mutter-Kind-Symbiose."

Denkbar für den Forensiker: Durch unbewusste Fehl- oder Mangelernährung habe die Frau den Reifungsprozess des Kindes und seine Verselbstständigung unterbunden. Die Empfehlung: Eine verminderte Schuldfähigkeit sei nicht auszuschließen.

Die Verhandlung wird am Donnerstag, 4. Dezember, um 9 Uhr fortgesetzt.