Weihnachten an der Front: Die Stadt Balingen schickte ihren Soldaten im Ersten Weltkrieg Liebesgaben zum Fest

Von Fabian Wagener

Balingen. Weihnachten 1915, in Europa tobt der Erste Weltkrieg: Der Balinger Soldat Hermann Hildinger sitzt in einer Holzhütte irgendwo an der Ostfront und raucht. Neben ihm stehen vier weitere Soldaten in Uniform. Sie sehen erschöpft aus, ihre leeren Blicke erzählen von den Strapazen des Kriegs.

Links von den Männern aber leuchtet ein festlich geschmückter Tannenbaum, und auch die vielen Dinge auf dem kleinen Tisch erinnern an bessere Zeiten: Familienfotos, Weinflaschen, vor allem aber die mit Schokolade, Honig und Seife bepackten Geschenkpakete. Sie sind Präsente aus der Heimat, die als so genannte Liebesgaben zum Weihnachtsfest an die Front verschickt wurden.

"Die Liebesgaben sollten Trost spenden und zeigen, dass man zu Hause an die Soldaten denkt", erläutert der Balinger Stadtarchivar Hans Schimpf-Reinhardt. "Gerade an Weihnachten war das besonders wichtig, denn hier wurden die Soldaten am stärksten vom Heimweh geplagt."

Laut Schimpf-Reinhardt beschenkten die Balinger ihre Soldaten schon von Anbeginn des Kriegs mit Liebesgaben. Bereits sehr früh, im Spätsommer 1914, wurde ein "Ortsausschuss für freiwillige Liebestätigkeit für die zu den Fahnen einberufenen Mannschaften und deren Familien" gegründet. Es gab Sammelstellen für Kleidung, Verbandsmaterialien und Stärkungsmittel, rund 150 Frauen und Mädchen trafen sich zu regelmäßigen Strickstunden, um warme Wollsachen für die Soldaten zu fertigen.

Im Herbst 1914 wurde die Stadt Balingen dann offiziell aktiv: In der Gemeinderatssitzung vom 2. Oktober beschlossen die Räte, eine umfassende Paketaktion zu starten. Es sei eine "Pflicht der Zurückgebliebenen, für die Ausmarschierten, die an Entbehrungen und Strapazen Unsägliches durchzumachen haben, ihre Lage zu erleichtern", heißt es im Sitzungsprotokoll. Die Stadt plante, zunächst einmal 200 Pakete im Wert von jeweils zwölf Mark an die Front zu schicken, und richtete eine vierköpfige Kommission ein, die sich um Ankauf, Anfertigung und Versand der Liebesgaben kümmern sollte.

Doch was genau kam in die Pakete? Woraus bestand also eine Liebesgabe? Darüber geben Unterlagen der damaligen Stadtverwaltung Auskunft, in denen die Inhalte der Pakete fein säuberlich aufgelistet wurden. Zum Weihnachtsfest 1915 etwa gab es im "großen Paket" unter anderem: ein Hemd, Strümpfe, zwölf Zigarren, ein Feuerzeug, Hustenbonbons, Honig, Schokolade und Zitronensaft, dazu ein Notizbuch, eine Antwortkarte, ein Bleistift und den "Volksfreund".

Es war also ganz überwiegend Nützliches, was aus Balingen an die Front geschickt wurde. Wichtiger war aber wohl der ideelle Wert der Liebesgaben: "Für die Soldaten waren sie ein Zeichen dafür, dass man sie in der Heimat nicht vergessen hat", sagt Schimpf-Reinhardt. In dem brutalen Krieg hätten sie den Soldaten Sinn und Motivation gegeben.

Wie freudig diese die Liebesgaben aufnahmen, wie sehr sich viele aber auch nach der Heimat sehnten, zeigt sich in den Dankesschreiben, die sie nach Balingen schickten. Soldat August Holderied etwa schrieb Ende 1914 aus Nordfrankreich: "Beim Auspacken der schönen Sachen konnte ich eine gewisse Regung nicht unterdrücken, wo aus jedem Stück die Liebe aus der Heimat herausschaut. Diese empfindet man doppelt, wenn vor und über uns die feindlichen Granaten und Schrapnells krepieren."

Oft schilderten die Soldaten auf sehr eindrückliche Weise ihre Erlebnisse an der Front. Der Brief des Soldaten Karl Schöntag, ebenfalls aus dem Jahr 1914, liest sich fast wie eine Kriegsreportage: "Hier sieht es traurig aus, alles ist zerstört und ausgeraubt. Die Häuser sind abgebrannt und zusammengeschossen. Tote Soldaten liegen Wochenlang auf dem Schlachtfelde, Pferde, Vieh, alles was man sehen will. Wir hoffen aber, dass es nicht mehr lange geht."

Dieser Wunsch sollte sich erstmal nicht erfüllen. Der Krieg weitete sich aus, die Lage verschlechterte sich, und auch in Balingen wurden Nahrungsmittel und Textilien knapp. Ab 1916 ließ die Stadtverwaltung daher den Soldaten nur noch Geldbeträge als Liebesgabe zukommen. Der Dankesbrief des Soldaten Max Mebold für das Weihnachtspaket 1915 dürfte deshalb einer der letzten seiner Art gewesen sein: "Ich habe das Weihnachtspaket der Stadtgemeinde Balingen erhalten und sage Ihnen meinen herzlichen Dank. Wir haben Weihnachten im Schützengraben gefeiert und unter dem Donner der Geschütze unsere Weihnachtslieder gesungen. Ein seltsames Empfinden: Frieden auf Erden und draußen ein Sturm, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat."