Das Urteil des Hechinger Gerichts gegen die Mutter steht noch aus. Foto: Symbolfoto: Archiv

Chefarzt der Klinik in Murnau sagt zum Fall vor Gericht aus. Beweisaufnahme ist damit abgeschlossen.

Balingen/Hechingen - Im Prozess gegen die Frau, deren Kind beinahe verhungert wäre, hat gestern ein Arzt der Reha-Klinik ausgesagt, wo das Mädchen behandelt worden war. Damit schließt die Beweisaufnahme in einem ungewöhnlichen Fall.

Die Beweisaufnahme ist abgeschlossen, die Plädoyers gesprochen, genau wie das letzte Wort der Angeklagten. An diesem Punkt war der Prozess gegen die aus Geislingen stammende Frau, die wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt ist, schon vor zwei Wochen.

Doch statt des erwarteten Urteils verkündete der Vorsitzende Richter Volker Schwarz, auf Antrag der Verteidigung noch einmal in die Beweisaufnahme einsteigen zu wollen. So sagte gestern ein Chefarzt der Klinik in Murnau aus. Dort musste das damals 15 Monate alte Mädchen aufgepäppelt werden, nachdem es fast verhungert wäre.

Während des Aufenthalts von Mutter und Tochter habe sich die 37-Jährige nicht an die Absprachen gehalten. Wegen der drastischen Fehlernährung des Kinds musste die Mutter jeden zweiten Tag an einer Ernährungsberatung teilnehmen. Doch die Vorschläge der Experten zu einer gesunden Ernährung des Kinds habe sie nur widerwillig angenommen. Anstatt der verordneten Mischkost habe sie das Kind mit Butterbrezeln, Kuchen und Süßigkeiten gefüttert.

Mit dem Urteil am kommenden Mittwoch geht ein langer Prozess zu Ende, der laut Richter Schwarz nicht rund lief: Das dritte Kind einer Familie – die zunächst in Geislingen, später in Balingen gewohnt hatte – war von seiner Mutter fleisch- und milchfrei ernährt worden. Ärzte stellten bei dem völlig abgemagerten und mit Ekzemen übersäten Kind eine lebensbedrohliche Situation fest. Schließlich entzog das Familiengericht den Eltern das Sorgerecht. Das Kind kam in eine Pflegefamilie. Die Ehe der Eltern zerbrach. Sie mussten sich vor dem Hechinger Amtsgericht wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen verantworten.

Schon dort hatte der Vorsitzende Richter Ernst Wührl zugegeben, dass es schwierig gewesen sei, in dem ungewöhnlichen Verfahren zu urteilen. Auch die Staatsanwältin bemerkte: "Der Fall fällt deutlich aus dem Rahmen dessen, was sonst hier verhandelt wird." Es sei unerklärlich, wie in einer "gutbürgerlichen, integren Familie" ein Kind in eine solche Situation habe geraten können. Da das Gericht aber einen "bedingten Vorsatz" als erwiesen ansah, verurteilte es die Eltern zu Freiheitsstrafen von jeweils acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Staatsanwältin empfand die Strafe als zu gering, die Angeklagte offenbar als zu hoch, denn während der 43-jährige Vater sein Urteil akzeptierte, ging die Frau in Berufung.

Als der Fall erneut aufgerollt wurde – dieses Mal vor der kleinen Strafkammer des Landgerichts –, verteidigte sich die Frau "durch Schweigen". Ein anderer aber brach sein Schweigen: der Ex-Ehemann. Seine Frau habe darüber nachgedacht, das Kind abzutreiben, sagte er vor Gericht. Nachdem sie das Mädchen dann doch zur Welt gebracht hatte, habe er eine Wesensveränderung bei seiner Frau festgestellt. Sie habe ein gesteigertes Reinheitsempfinden gezeigt und immer weniger Sozialkontakte gepflegt. Der forensische Psychiater Peter Winckler war sich sicher: Auf keinen Fall sei die Frau in ihrer Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt oder gar schuldunfähig gewesen. Und der Rechtsmediziner Dietmar Benz merkte an, dass das Wohl des Kinds in den Händen der Mutter gefährdet gewesen sei. Für ihn bestehe kein Zweifel, dass es sich um "Kindesmisshandlung durch Unterlassung" gehandelt habe. Die Verteidiger der Frau hatten einen Befangenheitsantrag gegen den Rechtsmediziner gestellt, den das Gericht zurückwies.

Die gestrigen Aussagen des Arztes änderten nichts an diesen Gutachten. Auch Verteidigung und Staatsanwaltschaft beriefen sich auf ihre bereits verkündeten Plädoyers. Die Verteidigung hatte gefordert, das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben und die 37-Jährige wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe zu verurteilen. Sei dies nicht möglich, wäre eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten angemessen. Die Staatsanwaltschaft forderte eine zehnmonatige Freiheitsstrafe sowie 80 Arbeitsstunden wegen der Misshandlung von Schutzbefohlenen.