Ein 58-Jähriger muss sich vor Gericht verantworten. Vorwurf: Er soll im vergangenen Jahr versucht haben, seine Frau und seinen Sohn mit einem Fleischermesser abzuschlachten.(Symbolfoto) Foto: (skue)

58-Jähriger aus Balingen muss sich wegen versuchten Totschlags vor Gericht verantworten. Wollte der Mann seine Familie erstechen?

Hechingen/Balingen - Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft wiegt schwer: Der 58-jährige Deutschrusse, der vor dem Hechinger Landgericht angeklagt ist, soll im vergangenen Jahr am Tag der Deutschen Einheit versucht haben, seine Frau und seinen Sohn mit einem 34 Zentimeter langen Fleischermesser abzuschlachten.

Frau und Sohn hatten sich gerettet, indem sie aus dem Badezimmerfenster im ersten Stock sprangen. Derweil brüllte der Mann: "Ihr Hunde, ihr Huren, ich stech’ euch ab!"

Aber hat der 58-Jährige tatsächlich versucht, vorsätzlich zwei Menschen zu töten, die er liebte? Er selbst, der in U-Haft sitzt und in Fußfesseln vorgeführt wird, ist ein gebrochener Mann: Nach einem Schlaganfall im Jahr 2007 ist er zum Teil gelähmt und arbeitsunfähig, nach einer Infektion mit einem multiresistenten Krankenhauskeim war eine Herz-OP erforderlich. Im Gerichtssaal bricht er immer wieder in Tränen aus.

Geminderte Schuldfähigkeit? Eine Anpassungsstörung? Eine organische Beeinträchtigung? Eine besondere Belastungssituation im Vorfeld der Tat? Ein ärztliches Gutachten soll versuchen, die Fragen zu beantworten.

Er verzichtet auf die Hilfe der Dolmetscherin, die neben ihm sitzt, und gibt vor der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts bereitwillig Auskunft: Geboren ist er in der Altai-Region als Jüngster von fünf Geschwistern. Die beiden ältesten Geschwister starben, als sie noch klein waren, die Eltern verlor er früh, wuchs bei den Großeltern auf.

In Omsk machte er die Ausbildung zum Schiffsführer, arbeitete als Erster Steuermann, heiratete, der Sohn wurde geboren. ’84 zog er mit der Familie nach Kasachstan, arbeitete in einem Kohlekraftwerk, bis es hieß: "Russen nach Russland, Deutsche nach Deutschland!" Bis zur Ausreise im Jahr 2000 betrieb er einen "Handel mit Klamotten". Getrunken? Natürlich, wie alle. "Der Chef im Kraftwerk hat uns als Prämie Spiritus gegeben. Den haben wir getrunken, mit Wasser."

In Balingen arbeitete er zunächst bei einer Großhandelskette, danach machte er den Bus- und Lkw-Führerschein, wechselte von einem Balinger Busunternehmen zu einer Firma für Sportanlagenbau – bis zu seinem Schlaganfall und der späteren Herz-OP. Seither habe er nicht mehr geraucht und nicht mehr getrunken. Höchstens ein, zwei Bier.

An jenem 3. Oktober vergangenen Jahres habe er mit seinem Sohn im Garten gegrillt und ein paar Bier getrunken. Dann sei seine Frau heimgekommen, man sei ins Haus gegangen. Dort habe er noch ein Bier trinken wollen, aber seine Frau habe ihn angeschrien. "Ich kann es nicht vertragen, wenn jemand mich anschreit", erklärte er vor Gericht. Er habe erst ein Küchenmesser, danach ein Fleischermesser in die Hand genommen, um seiner Frau und seinem Sohn einen Schrecken einzujagen. Gegen den 130 Kilo schweren Sohn hätte er im Ernstfall sowieso nie eine Chance gehabt.

Frau und Sohn hätten sich im Bad eingeschlossen, da habe er die Türe mit einem Klappstuhl eingeschlagen. Warum er nicht aufgehört habe, als die beiden im Badezimmer waren? Er weiß es nicht. Als er das Martinshorn der Polizei gehört habe, habe er sich auf den Boden gelegt, "mit dem Gesicht nach unten". Er habe ein paar Schläge und Tritte gespürt und eine Portion Pfefferspray ins Gesicht bekommen. Er habe sterben wollen, habe Beruhigungstabletten geschluckt, 20 oder 30 Stück.

Was für ihn das Schlimmste sei?, fragt der Vorsitzende Richter Herbert Anderer. "Dass ich hilflos bin", antwortet der Angeklagte. Als der Richter ihn daran erinnert, dass er kurz nachdem seine Frau den Notruf abgesetzt hatte, zu seiner Schwester am Telefon gesagt habe: "Ich liebe euch, und ich liebe euch auch in einer anderen Welt", lässt er den Kopf hängen und weint erneut.

Seine Frau, die mittlerweile die Scheidung eingereicht hat, erklärt, dass es manchmal Streit gegeben habe, "wegen Kleinigkeiten", aber mit einer Ausnahme keine Handgreiflichkeiten. So wie dieses Mal habe sie ihn noch nie erlebt. Die Tochter, die verheiratet ist und selbst eine kleine Tochter hat, schildert ihn als liebevollen Vater. Ja, nach dem Schlaganfall habe er sich psychisch verändert, räumen die Frauen ein. Er, der der "starke Mann" gewesen sei, der die Familie ernährte, habe es nicht ertragen, sich plötzlich bevormunden zu lassen.

Vor Gericht wird der eingehende Notruf abgespielt. Die Frau, die nur schlecht Deutsch spricht, schreit in Panik um Hilfe: "Mein Mann! Mein Mann! mit Messer!"

Die Verhandlung wird am Freitag, 27. März, um 8.30 Uhr fortgesetzt.