Wie ein Säugling soll das Mädchen gewirkt haben. Dabei war es bei der Untersuchung bereits ein Kleinkind von 15 Monaten. (Symbolfoto) Foto: dpa

Mädchen wirkte eher wie Säugling. Bei keiner U-Untersuchung gewesen. Eltern wegen Misshandlung angeklagt.

Hechingen/Balingen - "Ich dachte zuerst, dass meine Auszubildende sich beim Geburtsdatum vertan hat", schilderte der Tübinger Kinderarzt vor Gericht seine erste und einzige Begegnung mit dem kleinen Mädchen, dessen Eltern jetzt wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen angeklagt sind.

Dem Aussehen nach sei es ein Säugling unter einem Jahr gewesen, den Akten nach ein Kleinkind von 15 Monaten. Das Mädchen habe Wassereinlagerungen in Händen und Füßen gehabt und Hautveränderungen, die an Neurodermitis erinnerten. Er habe nicht sagen können, ob eine schwere Erkrankung vorliege – vor allem, weil die Kleine bis dahin noch bei keiner einzigen U-Untersuchung gewesen war. "Ich konnte keinen Kontakt mit dem Kind herstellen, es war apathisch und reagierte nicht." Er habe die Eltern überzeugen können, das Kind, dessen Zustand er als lebensbedrohlich einschätzte, in die Reutlinger Kinderklinik zu bringen, wo es stationär aufgenommen wurde. Die Mutter habe er als "distanziert" empfunden, es habe keinen Kontakt gegeben zwischen Mutter und Kind. "Es schien, als würde sie unter Drogen oder Psychopharmaka stehen."

Der Leiter der Reutlinger Kinderklinik, der die Kleine aufgenommen hatte, sagte im Zeugenstand, dass er sofort den Verdacht gehabt habe, dass das Kind unter "ausgeprägtem Eiweißmangel" litt. Das habe sich bestätigt. Das Krankheitsbild kenne man aus Entwicklungsländern: Das Kind habe nicht krabbeln, stehen oder an der Wand entlanglaufen können. Im Kernspin habe sich herausgestellt, dass auch das Gehirn klein geblieben war. Die Ernährung sei nicht altersgemäß gewesen: "Das Kind hat nur Brei ohne Milch und kein Fleisch bekommen". Bei den Eltern habe er den Eindruck gehabt, "dass kein Problembewusstsein vorhanden war". Das Kind sei über eine Magensonde und per Infusion ernährt worden, nach ein paar Wochen habe es sich stabilisiert.

Die Mutter beschrieb der Arzt als "durchaus liebevoll und dem Kind zugetan". Sie habe ein "auffälliges Reinigungsverhalten" gezeigt und beispielsweise jeden Stab des Gitterbettchens desinfiziert. Und sie habe den Gesamtsachverhalt nicht verstanden: "Sie dachte, sie macht alles richtig." Lebensbedrohlichkeit?, erkundigte sich der Vorsitzende Richter. "Nicht akut", räumte der Arzt ein. Aber ohne ärztliche Hilfe hätte es in zwei, drei Tagen zu tödlichen Komplikationen kommen können.

Aus der Entwicklung lasse sich schließen, dass die Fehlernährung schon "mindestens vier bis fünf" Monate erfolgt sei: "Irgendwann hört auch das Gehirn auf zu wachsen." Festgestanden sei, dass das Kind in die Reha musste. Zur Erinnerung: Von Reutlingen wurde die Kleine nach Murnau verlegt, und noch während des Aufenthalts dort wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen.

Die Leiterin des sozialpädriatrischen Diensts an der Kinderklinik erklärte, die Frau habe signalisiert, dass sie nicht mit ihr sprechen möchte. Daraufhin habe sie das Jugendamt eingeschaltet. Mit der Hygiene habe es die 36-Jährige "äußerst penibel" genommen. Das Kind habe sie "wie einen Schutzschild" vor sich gehalten. Eingecremt habe sie es nur mit Handschuhen, um es nicht mit bloßen Händen im Intimbereich anzufassen: "Die Frau brauchte psychologische Hilfe und psychiatrische Therapie." Irgendwann habe der Vater der Kleinen angerufen und sich bedankt: "Sie haben mir die Augen geöffnet."

Die Mitarbeiterin des Landratsamts, die zum gesetzlichen Vormund bestimmt worden war, schilderte die Therapien und die Entwicklung der Kleinen. Heute sei sie altersgerecht entwickelt, wiege 14,4 Kilogramm, Größe und Kopfumfang seien normal, sagte sie.

Unnormal sei, dass sie als Aktenfälscherin und Kinderdiebin bezeichnet worden sei. Und vor allem Letzteres interessierte die Staatsanwältin und den psychiatrischen Gutachter besonders. Aber dazu wollte die Zeugin noch nichts Genaueres sagen. Denn dafür habe sie noch keine Aussagegenehmigung. Die soll jetzt beantragt werden.

Die Verhandlung wird am Mittwoch, 26. November, um 13.30 Uhr fortgesetzt.