"Schafherde in Davos": Das 1938 entstandene Gemälde ist die letzte Arbeit des Künstlers. Es stand auf seiner Staffelei, als er sich aus Angst vor dem Einmarsch der Nazis mit zwei Pistolenschüssen das Leben nahm. Foto: Ungureanu

Kunstsommer: 120 Arbeiten des bedeutendsten deutschen Expressionisten sind in der Stadthalle zu sehen.

Balingen - 19 Kunstausstellungen, Millionenpublikum – das hinterlässt Spuren. Die "Kunststadt Balingen" hat auch in diesem Sommer einen der ganz Großen zu Gast: Ernst Ludwig Kirchner, den schillerndsten und bekanntesten deutschen Expressionisten.

Die Ausstellung "Modelle, Akte & Kokotten", die vom 2. Juli bis 3. Oktober in der Stadthalle zu sehen ist, ist neben Wolf Nkole Helzle in der Zehntscheuer und Markus Lüpertz in der Rathausgalerie die dritte und zweifellos bedeutendste des Balinger Kunstsommers.

Die Kirchner-Schau in der Balinger Stadthalle bietet, wie Kuratorin Annette Vogel sagt, "intime Einblicke in das Leben Kirchners, aber auch in die Welt zwischen den zwei Weltkriegen". 120 Ölgemälde, Skizzen, Lithografien und Holzschnitte aus der Dresdner und Berliner Zeit und schließlich aus der Alpenlandschaft von Davos sind in dieser Zusammensetzung nur in Balingen zu sehen. Sie lassen die künstlerische Entwicklung, die jeweiligen Stiländerungen erkennen.

In der Ausstellung, die am Freitag, 1. Juli, von Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut eröffnet wird, sind auch einige Werke zu sehen, die, wie Stadthallen-Chef Matthias Klein verrät, "sonst nie auf Reisen gehen".

Kirchner, das "Gesicht des deutschen Expressionismus", ist zweifellos der Bekannteste unter den Mitgliedern der 1905 in Dresden gegründeten Künstlergruppe "Brücke". Kirchner und seine Mitstreiter lebten anders als die Gesellschaft des untergehenden Kaiserreichs, sie waren anders, sie wollten aufbegehren: In der malerischen Form und Bildkomposition ging es ihnen vorrangig um die seelisch-psychischen Momente und die damit verbundene Suche nach dem "Kern der Dinge". Kirchners Modelle, die nicht posieren, sondern in freier, natürlicher Bewegung als "Viertelstunden-Akte" eingefangen sind, haben häufig die "eckige Anmutigkeit der Adoleszenz", sind unverfälscht und unmittelbar und tragen Namen, heißen "Fränzi" und "Marcella", "Dodo" und "Erna", und haben im Leben des Künstlers irgendwann eine Rolle gespielt.

In den Bildern, die in den 1930er-Jahren als "entartete Kunst" galten und aus den Museen entfernt, zum Teil auch verbrannt wurden, liegt viel Drama: Sie zeigen Angst und Hoffnung, Entspanntheit an den Moritzburger Seen und Hektik in der Großstadt, Berliner Kokotten im Straßenbild und die Angst des psychisch labilen Künstlers vor dem ausbrechenden Krieg in seinem Selbstbildnis von 1914. Zu sehen ist auch das letzte Bild Kirchners, das am 15. Juni 1938 auf seiner Staffelei stand, als er sich aus Angst vor dem Einmarsch der Nationalsozialisten mit zwei Schüssen das Leben nahm.

Parallel zur Kunstausstellung in der Stadthalle bietet die Jugendkunstschule im Zelt auf dem Vorplatz Familiensonntage für Kinder ab sechs Jahren an. Insgesamt rechnen Stadthallen-Chef Klein und Oberbürgermeister Helmut Reitemann bei der Kirchner-Ausstellung mit rund 60 000 Besuchern – vielleicht auch mit einigen, die kommen, um die Burg Hohenzollern zu sehen. Denn die Eintrittskarten für die Kirchner-Schau werden auch dort angeboten – als Kombipaket.