Auch in Balingen spaltet die Türkeistämmigen die Frage: "Für oder gegen Erdogan?" Foto: Symbolfoto: Kaiser

Deutsch-türkisches Verhältnis spaltet Gesellschaft hierzulande. Spannung vor Referendum.

Balingen - Immer wieder stehen die Menschen türkischer Abstammung hierzulande im Mittelpunkt der Diskussionen um die Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei. Auch unter den Türkeistämmigen in Balingen herrscht alles andere als Einigkeit.

"Ein Reizthema" nennt es ein Mitglied des Türkischen Kultur- und Gemeindevereins Balingen, wenn im Kreis seiner Landsleute über die deutsch-türkischen Beziehungen und die politischen Verhältnisse in beiden Ländern gesprochen werde. Nach einer langen Diskussion habe sich die Gruppe im Verein dagegen entschieden, sich gegenüber unserer Zeitung zu äußern.

"In der Gruppe vermeiden wir Gespräche darüber", sagt er und betont, dass ihnen ihre Jahrzehnte alten Freundschaften mehr wert seien, als darüber zu diskutieren.

Unter den Menschen türkischer Abstammung im Balinger Verein sei das komplette Meinungsspektrum vertreten – vom Erdogan-Unterstützer über den neutral Eingestellten bis zum Oppositionellen. Mehr als die Hälfte seiner Freunde würden beim Referendum am Sonntag, 16. April, für das vom türkischen Staatspräsidenten Erdogan angestrebte Präsidialsystem, also mit "Ja" stimmen. Er selbst, der vor mehr als 50 Jahren als Sohn türkischer Gastarbeiter nach Deutschland kam, wollte zunächst gar nicht abstimmen – nun wird er doch ein "Nein" abgeben.

Zwar nennt er Erdogan einen "Terroristen". Doch auch den Äußerungen in der westlichen Politik und Öffentlichkeit widerspreche er häufig. Er lese jeden Tag deutsche Zeitungen und schaue regelmäßig türkisches Fernsehen. "Wenn die Niederlande einem türkischen Minister die Landeerlaubnis verweigern, sind sie nicht besser als Erdogan", sagt er zum Beispiel.

Ebenso könne er den Maßstab meist nicht nachvollziehen, den die westlichen Medien zur Auswahl und Einordnung von Nachrichten anlegten. Fakt sei aber auch, dass in den türkischen Medien seit rund eineinhalb Jahren gar keine Opposition mehr zu Wort komme.

Dass sich hier lebende Menschen mit türkischen Wurzeln auf Erdogans Seite stellen, habe seiner Meinung nach auch mit Fehlern auf deutscher Seite zu tun. "Wir kamen als Gastarbeiter hierhin und irgendwann hat man uns vergessen."

Zuerst sei die deutsche Regierung davon ausgegangen, dass die Gastarbeiter auch irgendwann wieder verschwinden. Erst, nachdem man festgestellt habe, dass dieser "Tag X" nicht mehr komme, habe man sich langsam um Integration bemüht. Seiner Ansicht nach hätte es zum Beispiel das heutige Angebot an Sprachkursen schon viel früher geben müssen. So seien die Türkeistämmigen "nicht als Volk" in Deutschland integriert worden. Viele fühlten sich vernachlässigt – und dann sei Erdogan gekommen. "Er war der erste türkische Politiker, der sich an die Türken in Europa gewendet hat", sagt er.

Auch er habe den türkischen Präsidenten in der Zeit vor 2007 noch für einen "guten Demokraten" gehalten. Gewandelt habe sich Erdogans Verhalten aber, nachdem Bundeskanzlerin Merkel die Hoffnungen der Türkei auf eine EU-Mitgliedschaft gedämpft habe.

Jetzt sorge Erdogan bewusst mit seinen Äußerungen für Spaltung. Dabei profitiere er von der türkischen Mentalität: "Wenn man Türken kritisiert, fühlen sie sich angegriffen und wollen sich verteidigen", sagt er. So schaffe es Erdogan, dass sich Menschen türkischer Abstammung hierzulande auf die Seite des Landes stellten, auch wenn sie dessen Präsidenten nicht direkt unterstützten. Dazu würden auch Deutsche beitragen, indem sie jeden Türkeistämmigen in Deutschland als "die Türken" bezeichneten und sie pauschal mit Erdogan in Verbindung brächten. "Dieses ›ihr Türken‹ trifft uns", sagt er.

Beim Referendum am 16. April hoffe er aber, mit seiner Stimme zur Minderheit zu gehören: Ein Sieg der "Ja"-Stimmen würde die Chancen erhöhen, dass die Menschen in der Türkei zur Normalität zurückkehren, mit ihren Alltagssorgen konfrontiert werden und sich dann möglicherweise wehren. Eine Mehrheit für "Nein" wäre in seinen Augen "furchtbar" für das Land: "Die Fronten würden aneinander geraten." Daher hoffe er primär auf Frieden und ein Ende der "Grabenkämpfe" – auch, wenn seine Überzeugung ihn selbst dazu zwinge, mit "Nein" zu stimmen.