Ein Forum für den gesellschaftlichen Perspektivenaustausch im Schwarzwald: Moderator Walter Döring (von links), Soziologin Jutta Allmendinger, Sparkassen-Repräsentant Heinrich Haasis, Ministerin Bilkay Öney sowie die Gastgeber Renate und Heiner Finkbeiner bei den Tonbacher Gesprächen. Foto: Fritsch

Tonbacher Gespräche: Integrationsministerin Öney erzählt von Ängsten, Toleranzgrenzen und Engagement vor Ort.

Baiersbronn - Zuletzt hat Bilkay Öney häufig karg eingerichtete Zimmer gesehen. Praktische Schlafplätze, zweckmäßige Sanitärräume, geordnete Essenssäle, übersichtliche Speisepläne. Landeserstaufnahmeeinrichtung (Lea) nennt sich so etwas. Oben in Meßstetten auf der Schwäbischen Alb etwa. Oder in Ellwangen an der Jagst. Hunderte von Männern, Frauen und Kindern gewinnen hier ihren ersten Eindruck von Deutschland. Häufig wird das Wort von der Willkommenskultur bemüht. Viele der Ankommenden freilich sind froh, es gottlob hierher geschafft zu haben. Die einen werden in Deutschland bleiben können, andere zurückmüssen in ihre Heimat oder wohin auch immer im Strom der weltweit 50 Millionen Menschen auf der Flucht.

Leas hat Öney in den vergangenen Monaten gleich mehrfach besucht. Seit Monaten nehmen die Baden-Württemberger sie als so etwas wie eine Flüchtlings-Ministerin wahr. Ministerin für Integration lautet der korrekte Titel der SPD-Politikerin.

Am Sonntag allerdings schnappt Bilkay Öney Schwarzwälder Sonnenstrahlen an einem der gastfreundlichsten Orte in Deutschland auf. Im Rosengärtle der Traube Tonbach in Baiersbronn, wo man sich im Wanderhimmel wähnt, suchen erfolgreiche Mittelständler aus dem ganzen Südwesten, Europa-, Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker wie der Christdemokrat Thomas Bareiß aus Balingen, Baden-Württembergs Grünen-Agrarminister Alexander Bonde aus Baiersbronn und der Europa-Abgeordnete Joachim Starbatty (AfD, Tübingen), einflussreiche Verbandsvertreter wie Heinrich Haasis, Präsident des Weltinstituts der Sparkassen, oder Dieter Teufel, Chef der Industrie- und Handelskammer Schwarzwald-Baar-Heuberg, und Journalisten den Gedankenaustausch mit der Ministerin. Hausherr Heiner Finkbeiner begrüßt Öney als "Pragmatikerin mit Mut zur eigenen Meinung". Davon wird bei diesen 16. Tonbacher Gesprächen noch häufiger die Rede sein. Moderator Walter Döring, der Ex-FDP-Wirtschaftsminister im Land, etwa nickt anerkennend, wenn Öney sachlich, konkret, unaufgeregt Möglichkeiten und Grenzen von Integrationspolitik ausmisst.

"Zu Tränen gerührt" nach Hilfsbereitschaft

Öney selbst formuliert es an diesem Nachmittag so: "Die Flüchtlingsprobleme sind zu groß, als dass sie eine Regierung, ein Land, eine Partei lösen könnten." Und sie lobt auffällig häufig Kirchen und Bürger im Südwesten, auch Christdemokraten und Liberale für deren Unterstützung. Wiederum Beispiel Meßstetten. "Zu Tränen gerührt" habe sie die "überwältigende Hilfsbereitschaft" in der 10 000 Einwohner-Stadt auf dem großen Heuberg: "Das Gegenstück zu Tröglitz". In dem Dorf in Sachsen-Anhalt brannte am Ostersamstag eine Asylunterkunft, in die 40 Flüchtlinge einziehen sollten.

Öney erwähnt auch Richard Arnold, den Oberbürgermeister von Schwäbisch Gmünd, der Asylbewerbern unbürokratisch Arbeitsmöglichkeiten verschafft. Und die Mannheimer Polizei, mit der die Politikerin auf Streife war. Aus dem Ausland gesteuerte Einbrecherbanden dürften nicht mit der Flüchtlingsfrage verwechselt werden, hat sie beispielsweise als Erkenntnis mitgebracht.

Eine andere Welt hier in Tonbach? Gewiss. Doch es ist eben ein Anliegen der von der Hotelierfamilie Finkbeiner in der Diskurskultur Baden-Württembergs seit Jahren etablierten Gesprächsreihe, bei allem angenehmen Ambiente keinen abgehobenen Debattierklub zu betreiben. Über den Tellerrand der Tagespolitik schauen die Tonbacher Gespräche zwar hinaus. Doch sie entfliehen eben nicht der gesellschaftlichen Relevanz, stellen sich vielmehr dem Test auf Alltagstauglichkeit. Die Soziologin Jutta Allmendinger hat sich hier schon der Bildungsmisere angenommen, der Kriminologe Christian Pfeiffer die Leistungskrise junger Männer analysiert. Vergangenes Jahr hat der Talk mit Festival-Direktor Dieter Kosslick die Kulissen der Berlinale zur Seite geschoben.

In Berlin, im kleinbürgerlichen Vorort Spandau, ist die im anatolischen Malatya geborene Bilkay Öney aufgewachsen, dort studierte sie Betriebswirtschaft und Medienberatung, arbeitete als Redakteurin und Moderatorin für den türkischen Fernsehsender TRT, bevor sie 2006 für die Grünen ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde, drei Jahre später mit ihrem Übertritt zur SPD die rot-rote-Regierung rettete.

Von Anfang an kam Gegenwind

Irgendwann im Frühjahr 2011 dann beginnen Fremdeln, Anfreunden, Respektgewinn in Stuttgart bei den Schwaben. Öney wird im Mai in die grün-rote Überraschungsregierung von Baden-Württemberg berufen. Als Integrationsministerin. Der Handyanruf von SPD-Landeschef Nils Schmid, so wird erzählt, habe sie bei der Geburtstagsfeier ihrer Schwester überrascht. Öney wollte das Angebot erst gar nicht glauben.

Sie schlägt aber doch ein und macht sich von der sexy Bundeshauptstadt auf den Weg in das wohlhabende Bundesland, in den Südwesten. Dass man hierzulande Berlin-Exporten gelegentlich zurückhaltend begegnet, hatte Öney, die dieser Tage 45 wird, wohl auf dem Zettel. Dennoch dürfte sie den Gegenwind unterschätzt haben, der der Ministerin und ihrem kleinen, neu geschaffenen Ressort von Anfang an entgegenschlägt. E-Mails und Briefe, nicht selten hasszerfressen, sind das eine. Politische Breitseiten und Sticheleien das andere. Das böse Wort von Erdogans-U-Boot kursiert. Die einen halten das Ministerium schlicht für überflüssig, anderen erscheint das Mini-Ressort mit seinen 60 Mitarbeitern handlungsunfähig. Äußerungen der Ministerin, die mit unglücklich noch freundlich umschrieben sind, machen nichts besser. Die CDU fühlt sich in die Nähe von Rassismus gerückt, Öney leistet Abbitte. Dörings Parteifreund Hans-Ulrich Rülke wiederum nennt die gebürtige Türkin ein andermal ein Sicherheitsrisiko. Rücktrittsforderungen wechseln sich ab mit der Ankündigung derselben. Die SPD ihrerseits sieht ihre Ministerin stetem Misstrauen und kalkulierter Stimmungsmache ausgesetzt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wird ihr Fürsprecher. Nicht nur einmal, räumt sie in Baiersbronn ungeniert ein, habe er ihr politisch "den Hintern gerettet". Nicht nur deshalb findet sie den Regierungschef übrigens "cool", "ja cool".

Auf der politischen Agenda setzt – nach den Start-Irritationen für Öney – die Flüchtlingsdramatik Grün-Rot unter Zugzwang. Bilkay Öney zeigt jetzt Statur. Sie spricht mit den Bürgern vor Ort, sucht nach gangbaren Lösungen, entwickelt eigenständige Positionen, nimmt auch dann kein Blatt vor der Mund, wenn ihre Überzeugungen im eigenen grün-roten Lager anecken. "Unsere Grenzen sind zu durchlässig", wird sie etwa von der "Welt" zitiert. Albanien und das Kosovo hätten in einem Zug mit Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien zu sicheren Herkunftsländern deklariert werden sollen. Ostdeutsche Kommunen könnten mehr Flüchtlinge aufnehmen, da dort ehemalige russische Kasernen leer stünden. Ängste der Bevölkerung gelte es aufzugreifen.

"Deutschland kann nicht alle Probleme der Welt meistern

In Baiersbronn knüpft sie daran an. Es gebe "Grenzen des Machbaren", auch eine "Toleranzgrenze der Gesellschaft". "Deutschland kann nicht alle Probleme der Welt meistern", sagt die Integrationsministerin im Kabinett Kretschmann/Schmid. Es gebe in der Bevölkerung Verständnis für Menschen, die vor Krieg und Vertreibung flüchten, aber nicht für Asylsuchende aus sicheren Ländern, die auf finanzielle Leistungen aus sind. Angst vor IS-Terrorismus, so die Ministerin, "ist kein Rassismus". Bei knapp fünf Prozent Muslimen im Land sei so schnell aber auch kein muslimischer Kanzler zu erwarten. Und von wegen Islamisierung: Der Großteil der Zuwanderung der vergangenen Jahre resultiert aus der EU-Osterweiterung. "Katholisierung, wenn schon", schmunzelt Öney.

Sie hat ihre Rolle gefunden, heißt es mittlerweile in der landespolitischen Szene über Öney. "Ich kann inzwischen auch Diplomatin", beschreibt sie die Wandlung in Tonbach selbst. Bei ihren Besuchen in Meßstetten beispielsweise empfinden sie Beobachter als bürgerfreundlich, ohne Blasiertheit. Mit Asylbewerbern, so der Eindruck, kommuniziert sie offen und unverstellt. Man spürt Interesse an den Menschen und deren Sorgen. Da ist kein intellektueller Dünkel, auch keine Freundlichkeit nur aus Pflichtbewusstsein oder gar als Show für die Medien. Auch außerhalb des Blitzlichtgewitters etwa beschäftigt sie sich mit den Kindern. Engagement vor Ort lobt sie. "In der Flüchtlingsarbeit zeigt sich einmal mehr, dass Baden-Württemberg das Land des Ehrenamtes ist. Wirtschaftliche und soziale Stärke gehen hier Hand in Hand" sind jetzt typische Öney-Sätze. Ob sie das 2011 bei ihrem politischen Überflug nach Südwest auch schon so gesehen hat?

Gut möglich, dass dem Ministerium inzwischen allerdings ein neues Missverständnis droht. So wenig Integration etwa auf Religionen oder auf die Sicherheitspolitik oder den Kampf gegen islamistischen Terror zu beschränken ist, so wenig kann die Flüchtlingsfrage das Amtsverständnis völlig aufsaugen.

Öney beschreibt deshalb in Baiersbonn nicht allein, was Land und Kommunen in der Flüchtlingsunterbringung zu leisten haben. Sie sieht auch die Grenzen. Das Tempo des Migrationsdrucks könnte überfordern.

"Integration muss man wollen, können und dürfen"

Stichwort Fluchtursachen: Was eigentlich unternimmt die EU, was die Staatengemeinschaft, wo ist internationale Friedenspolitik, wo intelligente Entwicklungshilfe erkennbar? Konkreter: Öney spricht sich für legale Wege in die Arbeitsmigration aus, für Migrationsberatungsstellen in Nordafrika und auf dem Balkan. Dann kann der Ingenieur aus dem Irak sein Geld in einen Deutschkurs investieren statt es Schleppern zu geben.

Eine Wow-Frage schließlich aus dem Publikum in der Traube an die Ministerin: "Wie sieht für Sie gute Integration aus?" Die Antwort ist, wie so viele an diesem Mittag, wie fürs Lexikon der modernen Gesellschaftskunde formuliert. "Integration muss man wollen, können und dürfen." Bedeutet: Bereitschaft bei Migranten wie Aufnahmegesellschaft, Qualifikationen wie Sprache als Voraussetzung und Möglichkeiten, sich einzubringen, ohne dass einem Steine in den Weg geworfen werden.

Ihren Job als Ministerin sieht Bilkay Öney denn auch nicht in bloßer Lobbyarbeit für Migranten und Flüchtlinge. Die Mehrheitsgesellschaft dürfe vielmehr nicht ausgeklammert werden. "Integration durch Leistung", noch so ein Satz, der der SPD-Politikerin in Baiersbronn einfällt: "Wie im Sport, da ist es egal, wer die Tore schießt." Man denkt an Mesut Özil, den deutschen Fußball-Weltmeister. Dem ist jüngst freilich aufgestoßen, dass er immer noch als Deutsch-Türke tituliert wird, während niemand bei Sami Khedira vom Deutsch-Tunesier oder bei Klose vom Deutsch-Polen redet. Aber das ist ein anderes Thema. So sieht es gewiss auch Berti Vogts – in Baiersbronn übrigens aufmerksamer Zuhörer der 16. Tonbacher Gespräche.