Gastgeber und Redner der 17. Tonbacher Gespräche in Baiersbronn (von links): Heiner Finkbeiner, Hanns-Peter Knaebel, Renate, Matthias und Sebastian Finkbeiner, Walter Döring. Foto: Fritsch

Tonbacher Gespräche: Aesculap-Chef sieht noch viel Luft im deutschen Gesundheitswesen und fordert Perspektivwechsel.

Baiersbronn - Die Zahl wirkt wie ein chirurgisch glatter Schnitt. 20,6 Prozent der Mitarbeiter deutscher Krankenhäuser "würden sich nicht in der eigenen Institution operieren lassen", heißt es im sogenannten OP-Barometer. Hanns-Peter Knaebel zitiert dieses Umfrageergebnis nicht, weil er das deutsche Gesundheitswesen schlechtreden will. Dieses sei zumindest flächendeckend betrachtet eines der leistungsfähigsten der ganzen Welt, sagt der Vorstandsvorsitzende des Tuttlinger Medizintechnik-Herstellers Aesculap AG vielmehr.

Doch Knaebel, von Haus aus Chirurg, will es gerne genau wissen. Er sieht – zurückhaltend ausgedrückt – "viel Luft" im deutschen Gesundheitswesen. Soll heißen: Bedarf an ungeschönter Analyse, an der Optimierung von Prozessen, an Transparenz. Das wankelmütige Vertrauen der Klinikbeschäftigten in ihre eigenen Häuser hängt laut OP-Barometer nämlich gar nicht so sehr mit Misstrauen gegenüber der medizinischen Kapazität zusammen. Es spiegele vielmehr Unbehagen im Blick auf die Gesamtabläufe, das Zusammenspiel von Medizin, Pflege, Organisation.

Knochensäge, interventionelle Kardiologie, chirurgisches Nahtmaterial: Es sind Begriffe aus der Welt der Operationssäle, die am Sonntag bei den 17. Tonbacher Gesprächen in der Traube Tonbach in Baiersbronn fallen. Doch Professor Knaebel versteckt sich nicht hinter der Fachsprache seines Metiers. Seine Diagnose ist allgemeinverständlich: Das Gesundheitssystem in Deutschland ist gewiss nicht bettlägrig. Doch es steckt in und steht vor Herausforderungen, denen sich die Gesundheitspolitik erst noch als gewachsen erweisen muss.

Die Tonbacher Runde liefert damit einmal mehr Gesprächsstoff weit über diesen Sonntag hinaus. Hinzu kommt die besondere Atmosphäre in einem der ersten Häuser des Landes. "Fühlen Sie sich bei uns gut aufgehoben", nennt es Gastgeber Heiner Finkbeiner. Mehr Schwarzwälder Understatement geht kaum.

Veranstaltung hat sich im Südwesten längst als Gedankenschmiede etabliert

Die Themenführung obliegt dieses Mal Hanns-Peter Knaebel, dem Mann "von der dunklen Seite der Macht", wie der Unternehmensführer es selbstironisch nennt. Der eigentlich Chefarzt hatte werden wollen, wenn es schon mit der Tenniskarriere nichts sein sollte. Über den Zwei-Meter-Mann ist die Anekdote im Umlauf, er sei sich nach einem Doppel gegen Boris Becker seiner sportlichen Grenzen bewusst geworden.

Ex-Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP), seit 17 Jahren Moderator des Dialogs, ist hinterher ganz angetan: "Ein brillanter Vortrag: kompetent, klar und deutlich." Die Tonbacher Gespräche haben sich im Südwesten jedenfalls als Gedankenschmiede etabliert. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass am Sonntag frühere Referenten wie Astronaut Ernst Messerschmid und Hans-Jörg Bullinger, der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, wieder in die Traube Tonbach gekommen sind.

Oder auch an der brennenden Aktualität der Themen, wenn man etwa an den Meinungsaustausch mit Bilkay Öney (SPD), damals noch Integrationsministerin der grün-roten Landesregierung, im vergangenen Frühjahr denkt. Gesucht waren so etwas wie Leitplanken für die Aufnahme von Flüchtlingen. Dies zu einem Zeitpunkt, als noch kaum absehbar war, wie die Entwicklung der Flüchtlingskrise die Gesellschaft einem Integrations- und Realitätscheck, ja Humanitäts- und Demokratietest unterziehen würde. Ermessen mag man die Bedeutung Tonbachs ferner daran, dass die Referentin aus dem Jahr 2013 heute als mögliche Nachfolgekandidatin für Bundespräsident Joachim Gauck gehandelt wird: Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Gesellschaft und Politik sollten sich darüber klar werden, was geleistet werden kann

An der Spitze der Aesculap AG ist der 47-jährige Knaebel gelandet. Die Tuttlinger kommen aus dem Messerschmied-Gewerbe der Stadt an der Donau und haben vor bald 150 Jahren zu chirurgischen Ins-trumenten gegriffen. Heute erwirtschaften 12 000 Mitarbeiter weltweit, davon 3500 in Tuttlingen, 1,6 Milliarden Euro Umsatz. 120 Millionen Euro werden im Jahr investiert.

"Weltzentrum der Medizintechnik" nennt sich die 35 000 Einwohner zählende Kreisstadt Tuttllingen heute. In der Tat: Um die 400 Unternehmen der Branche mit rund 13 000 Arbeitsplätzen nennt die Statistik für Tuttlingen und Umgebung. Aesculap selbst ist eine Sparte der Melsunger Medizingröße B. Braun: 6,1 Milliarden Euro Umsatz, 55 719 Mitarbeiter, 787 Millionen Euro Investitionen im Jahr, 262 Millionen Euro Forschungsausgaben.

Schon klar: Im Gesundheitswesen geht es um viel Geld. Wer wüsste das besser als Hanns-Peter Knaebel? Dennoch plädiert der Mann der Wirtschaft für einen Per-spektivwechsel in der Gesundheitspolitik.

Gesellschaft und Politik, sagt er in Baiersbronn, sollten sich erst einmal darüber klar werden, was das "Gesundheitssystem leisten kann und was es leisten könnte". Ein System, das honorieren und in den klinischen Einsatz bringen sollte, was Forschung und Industrie an Innovationen entwickeln. Und dabei der Erkenntnis folgt: "In der Medizin gibt es keine 100-prozentige Erfolgsquote, keine Null-Prozent-Komplikationsrate".

Es ist der Tonbacher Ruf nach einer Gesundheitspolitik, die zwischen Selbstperfektionierung des Konsumenten (aus dem Solidarsystem?) und Fürsorge für den Kranken, zwischen dem Menschenbild der Griechen von der makellosen Person und dem der Bibel vom verletzlichen Wesen die Balance findet. Nicht alles "nur vom Geld her" denkt. So ziemlich das Gegenteil also dessen, was Gesundheitsminister Hermann Gröhe aktuell mit seinem arg der Wahltaktik verdächtigem Griff in den Gesundheitsfonds vorhat.

Was hat noch ein Chefarzt seinem jungen Assistenten Knaebel einst auf den Weg gegeben: "Wie kann der Patient wissen, was gut für ihn ist?" Heute kommt der Patient mit 80 Seiten Ausdruck aus Google zur Sprechstunde. Kein Arzt würde noch sagen, was Knaebel damals zu hören bekam. Allenfalls noch denken.