Familie: Manchmal ist es nicht ganz leicht, einen behinderten Bruder zu haben – und doch liebt ihn seine große Schwester über alles

Wir in der Stadt. Ein ganz normaler Familienausflug. Mein zwölf Jahre alter Bruder quietscht vergnügt. Freudig klatscht er in die Hände und wackelt mit dem Kopf. Ich merke, wie ich meinen Schritt verlangsame. Ich schaue verlegen auf den Boden. Trotzdem spüre ich, dass wir angestarrt werden. Leute drehen sich irritiert nach uns um. Manche runzeln die Stirn, andere blicken uns mitleidig an. Kinder lachen oder zeigen mit dem Finger auf ihn: "Mama, was ist denn mit dem los?"

Noch vor ein paar Jahren hätte ich die Kinder böse angeschaut. Es hat mich verletzt und verunsichert, wie sie auf meinen Bruder reagierten. Ich hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Beschützen vor diesen unwissenden Menschen. Aber heute weiß ich: Ich kann es niemandem verübeln. Mein Bruder ist schwer behindert, körperlich und geistig. Er leidet unter einem Gendefekt, ein bestimmter Teil seiner DNA ist bei der Zellteilung verloren gegangen. Ganz genau können es sich nicht einmal die Ärzte erklären. Auf jeden Fall ist das, was mein Bruder hat, unglaublich selten. Weltweit gibt es nur drei oder vier bekannte Fälle. Aber vergleichbar sind seine Einschränkungen mit dem Angelman-Syndrom.

Für mich ist das eigentlich nicht schlimm, denn ich kenne es nicht anders. Als ich drei Jahre alt war, wurde mein Bruder geboren. Es war nicht gleich klar, dass er behindert ist. Erst als er keine Fortschritte in seiner Entwicklung machte, merkten meine Eltern, dass etwas nicht stimmte. Vom Arzt bekamen wir die Diagnose: behindert. Damals habe ich das nicht wirklich verstanden. Er war halt anders als andere Kinder. Mit seinen zwölf Jahren ist mein Bruder heute auf dem Stand eines Kindes mit etwa zwei Jahren. Es war ein riesengroßer Fortschritt, als er vor vier Jahren das Laufen lernte. Sprechen oder selber auf die Toilette gehen, kann er nicht. Auch sonst kann er nicht mit uns kommunizieren. Niemand weiß, ob er es eines Tages können wird. Trotzdem verstehen wir ihn. Nach all den Jahren wissen wir, was er mag, und was nicht. Wir können seine Gefühle deuten: Wenn er nölt, passt ihm etwas nicht. Manchmal wissen wir, woran es liegt, manchmal auch nicht. Es ist fast wie mit einem Baby. Nur in groß und stark.

Mein Bruder liebt laute Musik. Er isst gerne, ist dabei aber ziemlich wählerisch. Manchmal, wenn er Hunger hat, ist es schwer, ihn zu füttern. Er versteht nicht, dass es nicht schneller geht, wenn er am Arm zieht. Manchmal wird er dann sogar richtig wütend, beschwert sich lauthals. Das strapaziert die Nerven der ganzen Familie.

Wir sind drei Geschwister, was für meine berufstätigen Eltern sicher nicht leicht ist. Manchmal müssen mein kleiner fünfjähriger Bruder und ich zurückstecken. Müssen mit unseren Anliegen warten, bis mein behinderter Bruder zufriedengestellt ist. Aber eigentlich ist das kein Problem, wir sind es ja gewöhnt. Und meine Eltern sind wirklich die Besten wenn es darum geht, der großen Tochter beim Lernen zu helfen, den mittleren Bruder zu baden und dem Jüngsten einen Apfel zu schneiden. Außerdem haben sie wirklich Nerven aus Stahl. So gesehen ist es für mich nicht schlimm, dass mein Bruder behindert ist. Der Alltag ist gut zu meistern.

Es gibt aber auch Momente, in denen es nicht so leicht ist, die große Schwester eines behinderten Jungen zu sein. Das was ich jetzt schreibe, soll unter gar keinen Umständen böse klingen! Denn meine Familie würde ich gegen nichts in der Welt eintauschen. Aber teilweise ist es schwer mit ihm. Kirchengänge zum Beispiel mag ich gar nicht, wenn mein behinderter Bruder dabei ist. Mir ist es unangenehm, wenn alles still ist und er plötzlich anfängt zu kreischen. Ich bin unglaublich dankbar, in einem Ort mit so toleranten Bewohnern zu wohnen. Meistens ignorieren alle die Geräusche meines Bruders. Sie sind nett zu ihm und freuen sich, wenn er mit wedelnden Armen auf sie zukommt. Es ist ihnen auch egal, wenn er manchmal sabbert. Mir eigentlich auch, aber gegenüber anderen ist es mir unangenehm. Eigentlich weiß ich gar nicht warum. Wahrscheinlich mache ich mir einfach zu viele Gedanken.

Ich kann mich noch an das erste Klassentreffen an der neuen Schule erinnern. Zuhause habe ich geweint und meine Eltern gebeten, meinen Bruder Zuhause zu lassen. Ich hatte Angst vor den Reaktionen meiner Klassenkameraden. Angst davor, dass sie etwas Schlechtes über meine Familie denken könnten, denn das hat sie nicht verdient. Meine Eltern waren alles andere als begeistert von meinem Verhalten. Heute schäme ich mich selber dafür, denn mein Bruder ist unglaublich liebenswert und braucht sich überhaupt nicht zu verstecken. Gottseidank sahen das meine Klassenkameraden genauso. Niemand sagte ein negatives Wort über ihn, niemand schaute ihn komisch von der Seite an. Vielleicht fällt es mir manchmal sogar schwerer, meinen Bruder zu akzeptieren, als Außenstehenden. In solchen Momenten mag ich mich nicht besonders: In Momenten, in denen ich mich selber dabei ertappe, mich für das Auftreten meines Bruders zu schämen. Eigentlich sollte ich stolz sein, dass ich seine Schwester sein darf. Ein so reines Herz wie er hat, glaube ich, keiner. Und durch seine aufgeschlossene, kindliche und freundliche Art mag ihn fast jeder. In manchen Dingen kann ich tatsächlich noch was von meinem behinderten Bruder lernen.

Einen Behinderten in der Familie zu haben, bereitet aber auch in anderen Bereichen des Lebens viele Sorgen. Wenn mein Bruder krank wird, ist das manchmal sehr schwer für meine Familie und mich. Die eine Sache ist, dass er uns nicht sagen kann, was ihm fehlt und wo es weh tut.

Viel schlimmer aber ist die Tatsache, dass er uns nicht versteht. Wie soll man einem behinderten Jungen klar machen, dass er trotz Übelkeit essen und trinken muss? Ganz zu schweigen von den Medikamenten: Immer wenn er leicht krank wird, bekomme ich Angst. Es wäre nicht das erste Mal, dass er wegen einer einfachen Grippe auf der Intensivstation im Krankenhaus landet und künstlich ernährt werden muss. Es bricht mir das Herz, meinen Bruder leiden zu sehen. Es ist schwer zu wissen, dass er nicht versteht, was ihm helfen könnte. Er weiß ja nicht einmal, dass wir ihm helfen. Dass er nicht alleine ist mit seinen Schmerzen. Doch bis jetzt haben wir ja alles gemeinsam gut überstanden. Es gibt große und kleinere Sorgen, wenn man einen Behinderten in der Familie hat. Doch von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr lernen wir ihn besser kennen: meinen Bruder. Und auch er lernt dazu. Früher hat mir die Beleidigung "Du bist so behindert!" einen Stich ins Herz versetzt. Heute überhöre ich so etwas einfach. Die Leute wissen nicht, was sie da sagen, sie denken nicht darüber nach. So ein Satz ist schnell gesagt, hingeworfen ohne jegliche böse Hintergedanken. Das musste ich erst lernen.

Früher hat es mich auch getroffen, wenn jemand Mitleid mit mir hatte. Ich halte nichts von Sätzen wie "Ich habe gehört, du hast einen behinderten Bruder, das muss echt schwer für dich sein, mein Beileid." Klar: eigentlich eine nette Geste. Aber ich brauche überhaupt kein Mitleid. Warum auch? Sicher, es ist manchmal nicht ganz leicht, einen behinderten Bruder zu haben. Aber trotzdem bin ich froh dass es ihn gibt. Ich könnte mir keinen besseren Bruder vorstellen und würde ihn für nichts auf der Welt hergeben. Ich meine: Gibt es etwas Schöneres als zuzusehen, wie vergnügt sich der Junge zu lauter Musik bewegt? Wenn er lacht, dann ist es zu hundert Prozent ein ehrliches Lachen, ein Lachen bei dem einem das Herz aufgeht. Und wenn er zufrieden seinen Schokokuss nascht, muss man ihn einfach gern haben. Ich hoffe wirklich, dass ich noch viel von ihm lernen kann. Denn so offen auf jemanden zugehen und jeden auf Anhieb mögen, keine Vorurteile haben, ganz man selbst sein – das sind Dinge, in denen er viel besser ist als die meisten "gesunden" Menschen. Ich liebe ihn über alles, meinen behinderten Bruder.  Die Autorin besucht die Klasse 9a des Richard-von-Weizsäcker-Gymnasiums in Baiersbronn.