Die alten Meiler wie Philippsburg I sollen als Notreserve bei Energieengpässen dienen.
 

Stuttgart - Der Fahrplan steht: Bis 2022 soll das letzte deutsche Kernkraftwerk vom Netz gehen. So hat es die schwarz-gelbe Koalition in der Nacht zum Montag nach ihrer 180-Grad-Wende beschlossen. Doch bis zu einer echten Energiewende gibt es noch etliche Hürden: Etwa das Vorhalten eines AKW als "stille Reserve".

An kalten Wintertagen liefern Solar- und Windkraftanlagen weniger Strom. Die Energienachfrage ist in diesen Zeiten dagegen in der Regel höher als im Jahresdurchschnitt. Deutschland verfügt gegenwärtig über rund 90 Gigawatt gesicherter Stromleistung, davon entfallen rund 20 Gigawatt auf die Kernenergie. Die Spitzennachfrage liegt an kalten Wintertagen bei rund 80 Gigawatt. Um auch für solche Extremfälle gerüstet zu sein, hat der Koalitionsausschuss beschlossen, einen der sieben bereits jetzt im Zuge des Moratoriums abgeschalteten Alt-Meiler bis 2013 als stille Reserve vorzuhalten. Dafür hagelt es von vielen Seiten Kritik.

Die Opposition wertet dies als ein "Hintertürchen", um den Atomausstieg hinauszuzögern, Wissenschaftler sehen darin "wirtschaftlichen Unfug". Auch die von der Regierung eigens eingesetzte Ethikkommission zum Atomausstieg lehnt das Vorhaben ab, ein älteres Atomkraftwerk im "Stand-by-Betrieb" weiterhin in Bereitschaft zu halten. "Wir haben das nicht vorgeschlagen, wir halten das für nicht empfehlenswert", sagte der Kommissionsvorsitzende Klaus Töpfer in Berlin, der zuvor Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den 48 Seiten umfassenden Abschlussbericht der Kommission übergeben hatte. Noch ungeklärt ist die Frage, ob so etwas technisch überhaupt funktioniert.

Ein Reservekraftwerk kostet rund 50 Millionen Euro im Jahr

Denn anders als bei einer Stereoanlage oder einem Fernseher kann man bei einem Atomkraftwerk nicht einfach den Stand-by-Schalter umlegen, und alles läuft wieder ganz normal. Ein Kraftwerk als kalte Reserve in Bereitschaft hat es bisher noch nie gegeben: Die Anlage wird heruntergefahren, alle Brennelemente bleiben aber im Reaktor. Das heißt, diese müssen weiter rund um die Uhr gekühlt werden, ein Mitarbeiterteam muss den Betrieb weiter rund um die Uhr überwachen. Die Kosten dafür könnten bis zu 50 Millionen Euro pro Jahr betragen. "Das ist wirtschaftlicher Unfug", sagt der Aachener Professor für Reaktorsicherheit und -technik, Hans-Josef Allelein.

Der entscheidende Schwachpunkt in den Plänen der Bundesregierung ist aber ein anderer: Das Kraftwerk soll als Reserve dienen und im Notfall schnell wieder hochgefahren werden. So etwas funktioniert in der Praxis bei einem kalten "Stand by" schlichtweg nicht. "Man kann ein Kernkraftwerk nicht innerhalb von ein paar Stunden von null auf hundert hochfahren", erklärt Michael Buck vom Institut für Kernenergetik und Energiesysteme der Universität Stuttgart auf Anfrage unserer Zeitung. "Ein ruhendes Kraftwerk innerhalb eines Tages anzufahren ist absolut unrealistisch", betont der Wissenschaftler. So dauere es nach einer normalen Revision, bei der etwa die Brennelemente ausgetauscht oder Reparaturen durchgeführt werden, üblicherweise drei bis fünf Tage, ehe ein AKW wieder auf volle Leistung gefahren werden kann.

Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) hat skeptisch auf die Pläne der Bundesregierung reagiert. Die Idee, einen Atomreaktor als Reserve im Stand-by-Betrieb zu belassen, werfe viele Fragen auf. "Kernkraftwerke sind grundsätzlich nicht geeignet für eine Kalt-Reserve, denn ein Wiederanfahren dauert drei bis vier Wochen", sagte ein Ministeriumssprecher am Montag. Die Alternative - eine "Heiß-Reserve", bei der die Kernspaltung auf ein Minimum reduziert wird - wäre sehr kostspielig. Unklar sei, wer für diese Kosten aufkommen sollte.

Hessens Ministerpräsident Bouffier weiß noch nichts über Biblis B als Reservekraftwerk

Nicht nur die technische Frage ist ungeklärt. Fragwürdig und widersprüchlich ist auch die Tatsache, dass als Reserve-Kraftwerk ausgerechnet einer jener Alt-Meiler herhalten soll, die die Bundesregierung nach der Katastrophe im japanischen Fukushima aufgrund ihrer Sicherheitsrisiken im Zuge eines dreimonatigen Moratoriums vom Netz genommen hat und die jetzt ebenso wie das Pannen-AKW Krümmel endgültig stillgelegt werden sollen. Als Favoriten für den Stand-by-Betrieb gelten PhilippsburgI oder BiblisB, da gerade im Süden Deutschlands eine sogenannte Stromlücke entstehen könnte. Kanzlerin Merkel betonte aber, am liebsten wolle man dafür Kohle- oder Gaskraftwerke nutzen. Entscheiden soll darüber die Bundesnetzagentur.

Untersteller begrüßte die Entscheidung, dass die vom Moratorium betroffenen Alt-Meiler endgültig abgeschaltet bleiben sollen, und erteilte damit indirekt einem Stand-by-Betrieb von PhilippsburgI eine Absage. Damit werde nach Neckarwestheim I auch Philippsburg I ganz vom Netz gehen, sagte der Minister.

Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) konnte über eine mögliche Zukunft des Blocks Biblis B in Südhessen als Reservekraftwerk für eine Übergangszeit noch nichts sagen. Allerdings sei die Warnung vor einem Stromausfall durch die Bundesnetzagentur nicht einfach wegzuwischen, betonte Bouffier. "Die Frage eines Stand-by-Kraftwerks kann ich nicht beurteilen, da gibt es noch viele Fragen", fügte er hinzu.