Bundespräsident Joachim Gauck hält im Schloss Bellevue in Berlin während einer Veranstaltung vor dem 100. Jahrestag des Attentats von Sarajewo unter dem Motto "1914 - 2014. Hundert europäische Jahre" eine Rede. Foto: dpa

Gauck warnt vor "neuer Nationalstaaterei". Denn dass die früheren europäischen „Erbfeinde“ heute in der EU so eng zusammenarbeiten, ist für den Bundespräsidenten nicht selbstverständlich.

Gauck warnt vor "neuer Nationalstaaterei". Denn dass die früheren europäischen „Erbfeinde“ heute in der EU so eng zusammenarbeiten, ist für den Bundespräsidenten nicht selbstverständlich.

Berlin - Es war ungewöhnlich klare Kritik, die Joachim Gauck einem Teil der EU-Staatenlenker pünktlich zu deren Sommergipfel auftischte. In Brüssel setzten die Staats- und Regierungschefs gerade zum entscheidenden Part ihres wochenlangen Tauziehens um den Luxemburger Jean-Claude Juncker als neuen Präsidenten der Europäischen Kommission an. Fast zeitgleich nahm das deutsche Staatsoberhaupt in einer Art europapolitischen Denkrede zu den Lehren aus dem Ersten Weltkrieg jene ins Gebet, die innerhalb der EU mehr auf ihr eigenes Land schielen als auf eine engere Zusammenarbeit in der Gemeinschaft.

Der Bundespräsident benannte jene zwar nicht namentlich, die er eher als Bremsklötze für die aus seiner Sicht nötige größere europäische Integration sieht. Das gebietet schon die Rücksicht auf sein hohes Amt und die notwendige Zurückhaltung in der aktuellen Politik. Doch fast jedem im Großen Saal seines Amtssitzes Schloss Bellevue dürfte klar gewesen sein, wen er meinte.

Schon beim Staatsbesuch in Portugal Anfang der Woche hatte er die Zurückhaltung etwas fallen lassen und ziemlich deutlich gemacht, dass die EU ja wohl nicht dauernd nach der Pfeife des notorisch europaskeptischen Briten-Premiers David Cameron tanzen könne. Cameron und der rechts-konservative ungarische Ministerpräsident Viktor Orban - beide hatten bis zum Schluss die Nominierung Junckers abgelehnt.

Doch Gauck legte die Kritik viel breiter an und nutzte seine Rede zu einer Zustandsbeschreibung der Europäischen Union. Die „große und unerwartete Herausforderung“ des alten Denkens Russlands in Macht- und Einflusssphären, das sich in der Ukrainekrise zeige, treffe die EU mitten in der eigenen Krise. Populistische und europafeindliche Kräfte erstarkten, „im Inneren mehren sich die Stimmen, die mehr Nationalstaat zu Lasten der europäischen Integration wollen“. Ein paar Minuten später lässt Gauck keinen Zweifel, wie rückwärtsgewandt er solches Denken hält: „Der Rückzugsraum Nationalstaat, von dem manche träumen, er existiert so gar nicht mehr.“ Die Rückkehr zum klassischen Nationalstaat könne also für Europa nicht die Antwort auf die neue Unübersichtlichkeit sein. „Unsere aktuellen Probleme könne wir nicht durch Ausstieg oder Ausgrenzung lösen.“ Zack: wieder ein Seitenhieb auf Cameron und Orban.

Für ihn sei als Lehre aus der „Urkatastrophe“ des Ersten Weltkrieges klar, dass „das Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung und der Zusammenarbeit der westlichen Demokratien für uns heute so notwendig wie eh und je“ sei, schickte Gauck als Botschaft nach Brüssel. Dass die früheren europäischen Erbfeinde in der EU heute derart eng zusammenstehen, ist für den 74-Jährigen nicht selbstverständlich. Deswegen müsse bei aller vielleicht begründeten Kritik doch bitte schön die Arbeit an Reformen im Mittelpunkt stehen. Europa solle auch künftig das gemeinsame Haus sein: „Lassen Sie uns mit Sachlichkeit und Sympathie prüfen, wo seine Konstruktion verbesserungswürdig ist.“

Dass Gauck seine vehemente Pro-Europa-Rede ausgerechnet bei einem Symposium zum Ersten Weltkrieg mit seinen Hunderttausenden von Toten auf europäischem Boden hält, kommt nicht von ungefähr. Einerseits hat das mit der Hoffnung zu tun, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Mauer das westliche Verständnis von Demokratie, Menschenrechten und internationaler Zusammenarbeit Leitmotiv der weltweiten Entwicklung seien. „Das glaubte und hoffte auch ich“, sagt Gauck enttäuscht. Doch ein Vierteljahrhundert später zeige sich: „Weder Nationalismus noch Erlösungsideologien sind einfach verschwunden.“

Doch Gauck hat ein weiteres rein persönliches Motiv für seinen Einsatz für die europäische Einheit. Am Rande seines Portugalbesuchs hatte er gesagt: „Mein Vater hätte sich das nicht vorstellen können. Seine Generation ist aufgewachsen mit Kinderbüchern, in denen Erbfeinde etwas Natürliches waren. Das ist weg. Und dass eine Friedensordnung machbar ist, das ist wunderbar.“