Esther Heller verlieh der Drogenabhängigen Denise glaubhafte Züge. Foto: Köncke Foto: Schwarzwälder-Bote

Publikum spürt die innere Zerrissenheit

Von Manfred Köncke

Altensteig-Berneck. Sie trinkt Alkohol bis zum Exzess, raucht Marihuana, schnupft Kokain, konsumiert Crystal Meth, fühlt sich danach leicht und schwerelos, sieht die Welt in rosaroten Farben. Der Absturz ist brutal und äußerlich erkennbar: das Gesicht zu einer Fratze verzerrt, die Augen tief und leer, beide Arme voller Blutergüsse, fettig die herunterhängenden Haare, Zähne die langsam ausfallen – ein menschliches Wrack. "Die Geisterstunde" heißt das Ein-Personen-Stück von Johannes Galli mit einer wandlungsfähigen Schauspielerin Esther Heller auf der Theaterbühne des Bernecker Bruderhauses.

Denise Mennis hat ein Tagebuch geführt. Zitternd, mit nackten Füßen, beschreibt sie auf der Bühne in chronologischer Abfolge, wie es mit ihr soweit kommen konnte, endend mit der bitteren Erkenntnis: "Ich habe mein Leben verspielt."

Der Vater: ein Alkoholiker, die Mutter: gefühlskalt. Mit 14 Jahren legt sich Denise in der Schule mit dem Geschichtslehrer an. Sie hat keine Lust auf Kaiser und Könige, der Deutschlehrer lacht sie aus, weil sich ihr selbst geschriebenes Gedicht nicht reimt. In Englisch soll sie lieber Grammatik pauken, statt Liedtexte zu übersetzen. Denise fühlt sich zunehmend kontrolliert und eingeengt, sie will nicht sein wie alle, will sich kreativ und künstlerisch entfalten – und stößt auf Unverständnis und Ablehnung. Als ein Mitschüler ihr "eine Tüte" anbietet, wird ein verhängnisvoller Teufelskreis in Gang gesetzt. Der Drogenkonsum fliegt auf, der Vater schlägt zu, die Mutter schimpft und hört erst auf, als aus ihrer Nase Blut rinnt. Da ist Denise 14 Jahre alt. Ihr Gemütszustand verfinstert sich zusehends. Mit 16trinkt sie eine Flasche Bier in einem Zug leer, zieht sich aus, stellt das Video ins Internet. Sturzbetrunken brüllt sie der Vater an. Als er sie verprügelt, schlägt sie zum ersten Mal zurück. Der Freund will mit ihr schlafen, kommt schnell zur Sache, sie empfindet nichts – und ärgert sich trotzdem, weil er mit einer anderen rummacht. Sie trifft Boris, der Crack raucht. Sie probiert es aus, bekommt Wahnvorstellungen, schreit, schlägt mit den Fäusten immer wieder gegen den Kopf, Blut tropft aufs Tagebuch. Entsetzt schaut sie sich im Spiegel an. Bin ich das? Letzter Tagebucheintrag: Denise will "lieber stehend sterben als auf den Knien leben". Gibt es einen Ausweg? Und wenn ja, welchen?

Die innere Zerrissenheit und zunehmende Verzweiflung mit heftigen Gefühlsausbrüchen und unkontrollierten Bewegungen, das hektische Umherirren auf der Bühne: Schauspielerin Esther Heller hat den seelischen und körperlichen Niedergang einer labilen Jugendlichen glaubhaft und auf beeindruckende Weise charakterisiert und bei den Zuschauern Betroffenheit ausgelöst. Die Begleitmusik passte sich der immer dramatischer werdenden Verfassung der Protagonistin an und verstärkte den Eindruck nachhaltig. Der Schlussbeifall war lang anhaltend und mehr als verdient.