Christoph Bossert (stehend) ist ein Bach-Kenner erster Güte und faszinierte die Kursteilnehmer mit seinen Erkenntnissen. Foto: Eyrich Foto: Schwarzwälder-Bote

Christoph Bossert eröffnet bei einem Meisterkurs zum Jubiläum der Rensch-Orgel ganz neue Ansichten über Bach

Von Karina Eyrich

Albstadt-Ebingen. Bach verstehen? Christoph Bossert ist es gelungen. Zum Jubiläum der Rensch-Orgel in der Martinskirche hat er Musikfreunde und -kenner an seinem Wissen teilhaben lassen – und ein großartiges Konzert gegeben.

Zu hoch für Laien ist das, was in Christoph Bosserts Kopf vorhanden ist. Doch der Professor der Hochschule für Musik in Würzburg versteht es dennoch, sein Wissen verständlich zu machen. Und das ist spektakulär, hat Bossert doch Bahnbrechendes über die Neumeister-Choräle von Johann Sebastian Bach herausgefunden – in zehnjähriger Arbeit. Doch die Fachzeitschrift "Musik und Kirche", so berichtet Bossert beim Meisterkurs in der Martinskirche, weigert sich bisher, seine Erkenntnisse zu publizieren. Begründung: Eine Gegendarstellung müsse mit dazu geliefert werden.

Worum geht es? Die Neumeister-Choräle seien ein Frühwerk Bachs und erst seit Mitte der 1980-er Jahre bekannt: von einer Abschrift eines Mannes namens Neumeister aus dem Jahr 1790. "Sie sind der Wurzelboden des Bachschen Werks", ist Bossert überzeugt. Ihm ist es gelungen, Verbindungen zu Bachs "Wohltemperiertem Clavier" aufzuzeigen, das damit als geistliches Werk gelten dürfe.

Werkzeuge, um Bach und diese beiden Werke besser zu verstehen, hat Bossert den Teilnehmern des Meisterkurses in der Martinskirche auf Einladung von Kantor Steffen Mark Schwarz an die Hand gegeben. Und obwohl es für die Neumeister-Choräle nur diese eine Quelle gibt – entstanden 40 Jahre nach Bachs Tod – ist Bossert sich sicher, dass die Choräle vollständig sind. "Für mich sind sie ein geschlossenes Werk, und ich kann begründen, dass es nur 36 sein können." Denn sie seien in einer "phänomenalen symmetrischen Ordnung" darstellbar.

Bosserts Überlegung: "Bei Bach steht niemals irgendein Stück allein. Erst indem ich Vergleiche ziehe, Unterschiede wahr nehme, entsteht eine Anschauung."

Bossert bezieht sich dabei auch auf einen Vorgänger Bachs, auf Johann Ulrich Steigleder, den er für einen der größten Komponisten Württembergs hält. Steigleder schrieb 1627 genau 40 Variationen über das Luther-Lied "Vater unser im Himmelreich". 40 – eine biblische Zahl. Bossert ist überzeugt, dass Bach den genialen Organisten gekannt haben muss, und wartet auf den Tag, an dem er es beweisen kann. Einstweilen stellt er erst einmal einen Forschungsantrag, um seine Entschlüsselung der Neumeister-Choräle "in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen". Das jedoch werde nicht von der musikwissenschaftlichen, sondern von der theologischen Seite her geschehen.

Die Choräle machten deutlich, "wie sehr schon der junge Bach eine Arbeit leistet, die das zu tragen im Stande ist, was Bachs Werk später ausmacht", so Bossert. Sieht er den Leipziger Thomaskantor als Genie? Darauf hat Bossert nur eine Antwort: "Nach allem, was mir hier erscheint, ist es unfasslich. Die Befunde kann man aufzeigen – aber wie das zustande kam, ist unfasslich."

Zum Schluss des Meisterkurses, der vielleicht fortgesetzt wird, wünscht sich Bossert, "dass sich in dieser Landeskirche ein Ruck ereignet und Johann Ulrich Steigleder als das gewürdigt wird, was er ist: ein wahrer Vorgänger Bachs."

Den Meisterkurs, den er selbst mit einem Impulsreferat eröffnet hatte, kommentierte Kantor Steffen Mark Schwarz am Ende so: "Ich weiß nicht, ob es in Albstadt einen Raum gibt, in dem so viele Türen vorhanden sind, wie Sie uns heute aufgeschlossen haben."