Steffen Mark Schwarz liebt seinen Beruf als Kantor besonders, wenn er Musik von Johann Sebastian Bach spielt. Foto: Eyrich Foto: Schwarzwälder-Bote

Martinskantor Steffen Mark Schwarz über theologische Botschaften, ein Musikgenie und dessen Stress mit Predigern

Albstadt-Ebingen. Morgen beginnt die Karwoche und damit die Passionszeit, die Leidenszeit Jesu. Im Gespräch mit dem Schwarzwälder Boten verrät Steffen Mark Schwarz, Kantor der Martinskirche, warum Musik im Allgemeinen und Johann Sebastian Bachs Johannespassion im Besonderen dabei eine wichtige Rolle spielen.

Herr Schwarz, Sie dirigieren am Karfreitag die Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Warum nicht die viel bekanntere Matthäuspassion?

Zum einen ist die Johannespassion die erste Passion, die Bach komponiert hat, und zum zweiten erfordert sie nicht eine solch große Besetzung wie die Matthäuspassion mit Doppelchor und doppelt besetztem Orchester. Das Johannesevangelium ist in seiner Faktur viel präziser, viel schärfer formuliert als jene von Markus, Matthäus und Lukas – eine Art Prozessbericht. Und wenn man die Bezüge herstellt, merkt man, wie viel Theologie Bach durch seine Musik ausdrückt.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Ja. Die gesamte Architektur des Eingangschores ist klingende Theologie. Die von Bach gewählte Dacapo-Form (A – B – A´) entspricht exakt der johanneischen Theologie. Dabei besingen die Rahmenteile (A – A´) die ewige Herrlichkeit Jesu beim Vater (theologisch: Präexistenz und Postexistenz) und der Mittelteil (B) widmet sich der zeitlichen Passion als Tiefpunkt der "Niedrigkeit". Die "Niedrigkeit" bewegt sich im Wechselspiel zur Verherrlichung, was Bach durch auf- und absteigende musikalische Bewegungen im Grunde plastisch darzustellen vermag. Die Erniedrigung des Kreuzestodes richtet sich zum Ausgangspunkt einer Erhöhung aus. Johannes 16,28: "Ich bin vom Vater ausgegangen (Präexistenz) und gekommen in die Welt (incarnatio). Wiederum verlasse ich die Welt (irdische Passion und Auferstehung als Einheit) und gehe zum Vater (Postexistenz)." Nicht zuletzt diese sämtlichen Formen an dreiteiliger Darstellung verweisen auf Bachs musikalische Inspiration, die er aus der Trinität schöpft.

Müssen Zuhörer solche Dinge wissen, wenn sie die Musik genießen wollen?

Nun, all diese Werke leben davon, dass wir uns immer wieder neu mit ihnen auseinandersetzen. Doch die erste Stufe ist das unverblümte Hören. Danach allerdings sollten Fragen kommen. Zum Beispiel: Was hat das mit mir zu tun? Die Musik ist textgebunden und soll Theologie transportieren. Ihr Zweck ist also nicht nur der reine Hörgenuss.

Gibt es noch andere Komponisten, die derart viele theologische Botschaften transportieren wie Bach?

Zeitgenössische Komponisten wie Krzysztof Penderecki, geboren 1933, Sofia Gubaidolina, Jahrgang 1931, oder Wolfgang Rihm, Jahrgang 1952, haben das mit ganz neuen klanglichen Mitteln versucht. Bei Bach jedoch ist die musikhistorische Bedeutung eine andere: Man muss bedenken, was sich durch ihn alles verändert hat. "Nicht ›Bach‹ – ›Meer‹ sollte er heißen", hat Beethoven gesagt, denn er ist als Musiker und Mittler der Theologie ein maßgeblicher Meilenstein; er hat auch in seiner weltlichen Musik nie den Blick nach oben verloren.

Sie sind Kantor und Musikwissenschaftler. Waren Sie jemals in Bachs Kopf?

Am ehesten bin ich in Bachs Kopf, wenn ich darüber nachdenke, was mir ein Werk wie die Johannespassion sagt, wie die Musik auf mich wirkt und was sie mit mir macht. Es ist schon unglaublich, wie ein Mensch in der Lage war, so zu komponieren. In Bachs Musik wird nichts dem Zufall überlassen. Er komponierte in Kreuzform, in Zahlenverhältnissen, und war davon überzeugt, dass Christus in jedem Moment gegenwärtig ist. Wenn ich abends alleine in der Kirche ein solches Werk an der Rensch-Orgel spiele und über seine Musik in seinen Kopf finde – das sind die Momente, in denen ich meinen Beruf besonders liebe.

Wäre Bachs Musik in einer katholischen Tradition denkbar?

Das ist eine wunderbare Frage. Lutherisch sein heißt, fröhlich sein, und Bachs Musik spielen heißt, diese Fröhlichkeit auch in sich zu tragen. Gleichzeitig ist es genau das, was die beiden miteinander verbindet. Das Anliegen Martin Luthers, der die Bibel ins Deutsche übersetzt hat, war es, die Gemeinde aktiv an der Messfeier teilhaben zu lassen. Dabei antwortet die Gemeinde im reformatorischen Sinn singend auf Gottes Wort. Daraus resultiert die Tatsache, dass Bach später mehr als 100 Luther-Texte vertont hat. Doch er, der Kantor der Leipziger Thomaskirche, hatte oft Stress mit seinen Pfarrern, weil ihre Predigten nicht so brillant waren wie seine Musik (lacht).

Denken Sie mal 1000 Jahre weiter. Wird Bach noch immer diese musikhistorische Schlüsselfigur sein?

Ich bin kein Prophet, aber nach meinem jetzigen Gefühl denke ich das und wünsche es mir auch, weil er unglaublich klar komponiert hat und seine Musik die Herzensebene erreicht – das spricht die Menschen an. In vielen Konzerten erklingt als letzte Zugabe ein Stück von Bach, weil seine Musik etwas unglaublich Reinigendes hat. Dasselbe gilt für Trauerfeiern: Seinen letzten Weg soll der Mensch wunschgemäß oft mit Bach gehen – dieser Name bürgt einfach für unumstrittene Qualität.

u Die Fragen stellte Karina Eyrich