Der zweite Mann im Staate Deutschland hat Albstadt besucht (von links): Sylvie Prigent und Oberbürgermeister Klaus Konzelmann, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Bundestagsabgeordneter Thomas Bareiß sowie CDU-Vorstandsmitglied Bettina Zundel und Stadtverbandsvorsitzender Roland Tralmer. Foto: Eyrich

Norbert Lammert als Wahlkampfredner in Tailfingen. Deutliche Kritik an der Türkei und Russland, Lob für die Kanzlerin.

Albstadt-Tailfingen - Seit 1980 gehört er dem Deutschen Bundestag an, ist seit 2005 sein Präsident und genießt als solcher in – ungewöhnlich – allen Fraktionen höchsten Respekt und tiefe Sympathie. Warum macht so einer kurz vor der Pension noch Wahlkampf? Ganz einfach: Norbert Lammert hat noch viel zu sagen.

"Es kommt selten etwas Besseres nach", sagt CDU-Stadtverbandsvorsitzender Roland Tralmer, ehe er, Bettina Zundel und Friedrich Pommerencke Albstadt-Mäusle und Unterwäsche vom Eyachstrand überreichen: "In Schwarz. Aus parteipolitischen Gründen."

Wer in der nächsten Legislaturperiode der zweite Mann im Staate Deutschland sein wird, weiß Tralmer ebenso wenig wie alle anderen, die von Wand zu Wand das Foyer der Zollernalbhalle füllen. Und doch: Er weiß, dass er Recht haben könnte. Norbert Lammert, seit zwölf Jahren Präsident des Deutschen Bundestags, vermissen viele jetzt schon – nicht nur, weil er der vielleicht beste Redner der Republik ist, sondern auch, weil er alles, was er sagt, mit Haltung, dem notwendigen Ernst und einer wohltuenden Portion Ironie und Witz vorbringt. Kostproben davon dürfen die Albstädter dank ihrem CDU-Bundestagsabgeordneten Thomas Bareiß am Freitagabend live genießen.

Warum Wahlen so wichtig sind

Das Land gut zu regieren – "dass ich das meiner Partei eher zutraue als anderen, wird Sie nicht besonders überraschen", sagt Lammert keck, ehe er ernst wird und auf die Überraschungen zu sprechen kommt, die er seit seiner Wahl 1980 in den Deutschen Bundestag in mancher Legislaturperiode erlebt hat. Auch in seiner letzten. Obwohl er sich jetzt zurücklehnen könnte, ist es Lammert wichtig, noch mal daran zu erinnern, wie der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine begonnen hat: Weil die Menschen dort zu Europa gehören wollten. Oder daran, wie wichtig es sei, von seinem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Jungen in Großbritannien, die gegen den Brexit waren, nicht zur Abstimmung gegangen seien und die Entscheidung den Älteren überließen, hätten es schmerzlich erfahren.

In welchem Ausmaß die Deutschen nach der Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge die Ärmel hochgekrempelt und angepackt hätten, gehört für Lammert "zu den ermutigendsten Erfahrungen meiner politischen Biografie". Er macht deutlich, dass die Geschehnisse "wie ein Naturereignis" gekommen seien und die Republik auch in Zukunft mit Migration konfrontiert bleiben werde. "65 Millionen Menschen – die meisten im eigenen Land – sind derzeit auf der Flucht", sagt er. Alle in einer Welt, "die noch nie so groß und noch nie so klein war wie heute". Dabei schielt er nicht auf die quantitative Veränderung – zwei Milliarden Menschen in den 1920er-Jahren, mehr als sieben Milliarden heute –, sondern auf die qualitative: Auch heute unterschieden sich das Leben der Afrikaner, ihre Chancen auf Arbeit und Einkommen deutlich von jenen der Europäer. Erstere wüssten dank Internet allerdings heute um diesen Umstand – und machten sich auf den Weg "in vermeintlich gelobte Länder". Norbert Lammert – das schwingt zwischen den Zeilen mit – ist der Letzte, der es ihnen verdenken könnte, und doch mahnt er: "Darauf müssen wir eine Antwort finden – eine, welche die Ursachen zum Gegenstand der Politik macht."

"Die mit Abstand intelligenteste Antwort"

Warum ist seiner "festen Überzeugung" nach die europäische Einigung "die mit Abstand intelligenteste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung"? Wieder lässt Lammert Zahlen sprechen: Es sei doch "eine kühne Vorstellung", dass 500 Millionen Europäer "den restlichen 6,5 Milliarden Menschen erzählen könnten, wie sie zu leben haben". Ein Land alleine habe in einer Welt, in der alle voneinander abhängig seien, keine Chance. Kein Staat könne seine Angelegenheit mehr alleine regeln, und die "bisher überzeugendste Antwort darauf ist Europa". Wenngleich diese Erkenntnis nicht über jede einzelne Enttäuschung hinweg helfe – auch ihm nicht, der "mit der einen oder anderen Frustration dienen" könne.

Zu US-Präsident Donald Trump sagt Lammert nicht mehr, als es ein verwundertes Kopfschütteln ausdrücken könnte, und zur Türkei nicht weniger, als dass sich dort zwei Putschs ereignet hätten – der zweite: jener der Regierung gegen die eigene Verfassung. Dass sein türkischer Amtskollege angekündigt habe, "wer unsere Werte angreift, dem werden wir die Hände brechen, die Zunge ausreißen und sein Leben vernichten", macht selbst einen so schlagfertigen Rhetoriker wie Lammert sprachlos. Den längsten Zwischenapplaus erntet er für seine Aussage, "dass die Türkei in Europa" angesichts dessen "nichts zu suchen hat" und dass dies eine "verheerende Perspektive" für die Millionen Türken sei, "die sich einen anderen Weg für ihr Land gewünscht haben".

George Bernard Shaw wusste es bereits

Eine gewisse Partei nimmt sich der sonst so neutrale Bundestagspräsident, der auch seine eigene zuweilen nicht ungeschoren lässt, am Ende auch noch vor – ohne sie namentlich zu nennen: "Populisten haben einen großen Wettbewerbsvorteil: einfache Antworten auf komplizierte Fragen." Seinen Kommentar dazu hat Lammert bei einer anderen Silberzunge, George Bernard Shaw, gemopst: "Auf jede komplizierte Frage gibt es eine einfache Antwort – und die ist regelmäßig falsch."

Und ehe er an alle appelliert, am 24. September von ihrem Wahlrecht Gebrauch und andere darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig Wahlen sind, erlaubt sich der künftige Politik-Rentner dann doch noch ein Portiönchen Wahlkampf und eine spitze Bemerkung von der Sorte, für die er berühmt ist: "Ich bin froh, dass wir in der komplizierten Welt, in der wir leben, Angela Merkel an der Spitze der deutschen Regierung haben." Viele Regierungschefs habe er kennengelernt, sagt Lammert, "und daher weiß ich noch besser als Sie ahnen können, was wir an dieser Kanzlerin haben".