Ein gebürtiger Ebinger neben einem monströsen Neubürger: Jürgen Karrer beim Besuch in seiner alten Heimat. Foto: Eyrich Foto: Schwarzwälder-Bote

Jürgen Karrer geht in seinen Memoiren unverblümt auf die Entwicklungen seiner 75 spannenden Lebensjahre ein

Von Karina Eyrich

Albstadt-Ebingen. Das Leben der kleinen Leute, die Textilwirtschaft und die große Politik: In seiner Autobiographie verwebt der gebürtige Ebinger Jürgen Karrer sie so geschickt, dass auch junge Leser viel daraus lernen können.

"Geraubte Kinderjahre" – so heißt das erste Kapitel der Autobiographie, in der Jürgen Karrer ergreifend seine Kindheit in Ebingen und seine Wanderjahre schildert, die ihn nach Reutlingen, London, Mittelengland, nach Barcelona und Vorarlberg, ja sogar nach Lateinamerika und zuletzt ins Filstal und nach München geführt haben. "Ich will zeigen, wie wir schon als Kinder arbeiten mussten", sagt Karrer. Doch es sind weit mehr als die Lebensverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkrieges, die er in Worte fasst, sondern auch der Krieg selbst. Jürgen Karrer, Jahrgang 1938, hat bei einem Bombenangriff 1944 die harte Realität erlebt, als der Milchlaster, auf dem er mitfuhr, beschossen wurde.

Noch schlimmer für ihn war jedoch der Schulalltag mit dem garstigen Lehrer, einem Kriegshelden, wenn "die hochkriechende Angst den Körper erstarren ließ, die Hände zu zittern begannen und die Buchstaben misslangen", weil der Rohrstock "wie ein Peitschenhieb" auf dem Rücken landete. Seine Erinnerungen hingegen sind Karrer nicht misslungen – im Gegenteil: Der Textilingenieur zeigt beachtliches schriftstellerisches Talent, findet kraftvolle, eindringliche, teilweise poetische Worte für die Erlebnisse in seinem erfüllten, spannenden Leben.

Der Leser erfährt Details aus der Besatzungszeit, als amerikanische Soldaten bei der Familie einquartiert waren und die Bauern ihre Töchter vor den Besatzern verstecken mussten. Er reist mit dem Autor nach Dettingen an der Erms, wo er bis zur Währungsreform die Schule besuchte, und erfährt nebenbei vieles über die damaligen Lebensverhältnisse – politische wie gesellschaftliche. Selbst vor einem Tabu, der Schändung der Frauen durch die Besatzer, macht Jürgen Karrer nicht Halt und ergründet unverblümt das Verhalten von Hitlers Anhängern ebenso wie das der "Sieger".

Zurück in Ebingen, absolvierte Karrer eine Ausbildung zum Industriekaufmann und nimmt seine Leser mit in die Wirtschaftswunderzeit, die auch Blütezeit der Textilindustrie auf der Schwäbischen Alb war und zu der die Fertigung der Textilien der Gesundheit nicht immer gut getan habe, wie er schreibt.

Auch hier beginnt Karrer wieder, die Fäden zu verweben, geht auf Adenauer, auf den Mord an Rosemarie Nitribitt, später auch auf die Ära Willy Brandt und den Mord an John F. Kennedy ein. Inzwischen war Karrer in Reutlingen mit der großen weiten Welt der Textilindustrie in Berührung gekommen, und er spart nicht aus, wie diese sich entwickelt hat. So wird Karrers Buch auch zur spannenden Lektüre für Textilfachleute.

Karrer erzählt von der Entwicklung neuer Materialien wie Nylon und Perlon, von der damit verbundenen Befreiung der Frau. Am Ende dieses Kapitels steht sein Sprung nach London, wo er nicht nur berufliche Herausforderungen, sondern auch seine künftige Frau Maria Teresa, genannt "Maite", fand: im Englischunterricht.

Das "swinging London" jener Zeit schildert der Autor mit ebenso viel Genuss wie die englische Küche – wohlgemerkt: jene der 1960-er Jahre.

Zum Liebesroman wird Karrers Buch, als er von den Schmetterlingen im Bauch schreibt beim Wiedersehen mit seiner Maite an Weihnachten in Stuttgart, von wo aus beide in ihre catalanische Heimat gingen: zunächst um dort zu arbeiten. Auch die Hochzeitsglocken für das Paar läuteten in Spanien, doch Karrer zog es zurück in seine Heimat, wollte er doch sowohl seine kaufmännischen als auch seine technischen Qualifikationen beruflich einsetzen. Das hat er danach an verschiedenen Stationen – in Deutschland und anderswo in der Welt – getan, von denen der Autor spannend und kenntnisreich berichtet.

Heute, als Vater zweier Söhne und Opa von vier Enkeln, lebt Jürgen Karrer in München und hat während eines Reha-Aufenthalts in Bad Wiessee begonnen, seine Memoiren zu schreiben. Albstadt hat der Textilfachmann dabei nie aus den Augen verloren, im vergangenen Sommer erst das Maschenmuseum besucht und nicht schlecht gestaunt, wie das Ebingen seiner Kindheit sich verändert hat, aber auch die Textilindustrie selbst: "Die Gier nach Gewinnen ist gestiegen", sagt Karrer. "Alles wurde ausgelagert." Er ist sicher, dass "man die Textilstrukturkrise zumindest hätte dämpfen können", wären maßvollere Entscheidungen getroffen worden.

So geht Karrer im Schlusskapitel nicht gerade zimperlich um mit der politischen Klasse: "Sollte die Eurozone immer mehr zur Geldtransferunion werden, wird Deutschland auch bald zu den Ländern zählen, die viel verlieren, ohne aus der gemeinsamen Währung den erhofften, wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen", schreibt er und macht damit auch noch einmal die Intention seines Buches deutlich: Der Leser soll Nutzen ziehen, soll profitieren – der reiche Erfahrungsschatz des Jürgen Karrer ist eine wunderbare Fundgrube dafür.