In diesem Haus in Ebingen wurde im Frühjahr 2014 ein Ehepaar getötet. Der mutmaßliche Mördersoll "Reichsbürger" gewesen sein. Foto: Eyrich

"Alb-Offensive" geht von mindestens fünf Reichsbürger-Familien in der Region aus. Verwendung von eigenen Flaggen.

Albstadt-Ebingen - Sie leben mitten unter uns, erkennbar an Flaggen im Vorgarten und Autokennzeichen: sogenannte "Reichsbürger", die es auch in Albstadt gibt. Jan Rathje von der Amadeu-Antonio-Stiftung weiß, was sie antreibt.

Von mindestens fünf Familien respektive Einzelpersonen, die sich zu den "Reichsbürgern" zählen, geht die "Alb-Offensive – kein brauner Alb(t)raum" aus und hatte deshalb Jan Rathje, Verfasser der Broschüre "Wir sind wieder da", eingeladen, über dieses Phänomen aufzuklären. Ein Übergriff auf Rathausmitarbeiter wird demnächst vor Gericht verhandelt. In Bisingen habe sich eine Zeit lang ein Stammtisch getroffen, und auch der mutmaßliche Mörder eines Albstädter Ehepaares soll "Reichsbürger" gewesen sein.

Selbsternannter Reichskanzler

Eher in ländlichen Regionen seien "Reichsbürger" zu finden, sagt Rathje, der Wert auf die Gänsefüßchen legt, denn "sie sind keine Bürger des deutschen Reichs". Allerdings glaubten sie das. Ihr bekanntester Vertreter, Wolfgang Gerhard Günter Ebel (1939 bis 2014), habe sich sogar "Reichskanzler" genannt und eine "kommissarische Reichsregierung" geführt. Seine Erfindung: Das "Einschreiben-Rückantwort-Verfahren": An die Vertreter der Alliierten habe Ebel geschrieben, dass sie binnen 21 Tagen Widerspruch einlegen könnten, andernfalls sei er in dieser und jener Funktion – zuerst als "Generalbevollmächtigter", zuletzt als "Reichskanzler" – anerkannt. Dass ein Gericht ihn als schuldunfähig angesehen habe, habe die Propaganda umgedreht: Es habe seine Immunität anerkannt.

Das brandenburgische Innenministerium unterscheidet laut Rathje vier Gruppen: die traditionell nationalistisch geprägten "Reichsbürger", die Selbstverwalter, die glauben, aus der Bundesrepublik Deutschland "austreten" zu können, die Milieumanager, die in der Szene Geld verdienen wollten, sowie die "Monarchen und Stifter von Reichen und Fürstentümern", deren bekanntester Vertreter Peter Fitzek in Wittenberg sein eigenes "Reich" samt eigener Währung, dem "Engel", und eigener "Reichsbank" ausgerufen habe.

Aus Dokumenten suchten sich "Reichsbürger" jene Ausschnitte, die ihnen "in den Kram passen", um ihre Argumentation zu stützen, dass die BRD kein legitimer Staat, nicht souverän und das Grundgesetz weder eine Verfassung noch demokratisch legitimiert sei. Rathje: "Bei Astrid Lindgren heißt das: Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt." Ein weiteres Argument: Die BRD sei kein Staat, sondern eine Firma, und der Personalausweis für deren Personal gedacht. Sprüche wie "Wir sind das Volk – und nicht das Personal der BRD" seien sogar auf Anti-Stuttgart-21-Demonstrationen aufgetaucht. Auch unter AfD-Mitgliedern gebe es "Reichsbürger", so Rathje: "Manche Landesverbände schließen sie aus, andere nicht."

Strafrechtlich relevant ist laut Rathje die Amtsanmaßung, etwa die Verwendung eigener Papiere und Flaggen. Besonders perfide seien die Drohungen gegenüber Bediensteten im öffentlichen Dienst und die Versendung von Schreiben durch so genannte "Volksgerichtshöfe" an "Türken, Muslime und Neger", die sie zur Ausreise aufforderten und andernfalls mit Gewalt drohten. Verbindungen gebe es zu rechten esoterischen Kreisen, Verschwörungsideologen, völkischer Kapitalismuskritik und alternativen Lebensweisen, erklärte der Referent und definierte, wer für "Reichsbürger" das "Böse und Fremde" sei: Linke, Antifaschisten, Kommunisten, das Finanzkapital und die "Bankster", die USA und "der Westen", "die da oben", "korrupte Politiker", "die Lügenpresse", Fremde, Anti-Deutsche und – tatsächlich auch – die "Faschisten" und "Nazis". Rathje: "Auch Neonazis mögen keine Neonazis." Allen gemein sei, dass sie sich ein Freund-Feind-Bild schafften: "Man selbst ist gut, man selbst ist das Opfer", alle anderen seien die Bösen. Wie solche Weltbilder entstünden, hätten Löwenthal und Guterman untersucht: aus Angst, Desillusionierung, Misstrauen, Abhängigkeit und einem Gefühl des Ausgeschlossenseins.

Daher rät Rathje, keine dualistischen Weltbilder zu vertreten nach dem Motto: "Ihr erzählt Müll – ich habe die Wahrheit". Er ruft dazu auf, menschenfeindliche Inhalte offenzulegen und Akteure zu benennen, Vertreter solcher Theorien sozial zu ächten, falsche Informationen zu widerlegen, Straftaten zur Anzeige zu bringen und rechtsextremes Material an die entsprechenden Beratungsstellen weiterzuschicken.

Die Zahl liegt im unteren dreistelligen Bereich

Mitarbeitern im öffentlichen Dienst rät der Fachmann, Diskussionen zu vermeiden, Verstöße schnell und konsequent zu ahnden, Schriftwechsel auf ein Mindestmaß zu begrenzen, keine Fantasiedokumente zu beglaubigen und die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen. Wie groß die Zahl der "Reichsbürger" ist, dazu konnte Rathje keine konkrete Aussage machen, da erst nach und nach Kategorisierungen erfasst würden: "Im unteren dreistelligen" Bereich liege die Zahl nach bisherigen Schätzungen bundesweit. Ein knappes halbes Dutzend davon lebt wohl in Albstadt.

Weitere Informationen: Rathje, Jan: "›Wir sind wieder da‹. Die ›Reichsbürger‹: Überzeugungen, Gefahren und Handlungsstrategien." https://www.amadeu- antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/reichsbuerger_web.pdf