Volker Jehle las im "Pinselstrich" aus von ihm edierten Briefen Wolfgang Hildesheimers vor. Foto: Schwarzwälder-Bote

Lesung: Volker Jehle stellte Wolfgang Hildesheimers Briefe an seine Eltern vor

Am 100. Geburtstag des großen Schriftstellers Wolfgang Hildesheimer – er starb 1991 – hat Volker Jehle im Lautlinger "Bistro Pinselstrich" Auszüge aus Hildesheimers Briefen an seine Eltern vorgelesen. Keiner war dazu berufener als er: Er ist der Herausgeber dieser Briefe.

Albstadt-Lautlingen. Die zweibändige Edition ist anlässlich des Jubiläums im Suhrkamp-Verlag erschienen; ehe Jehle aus ihr vorlas, ging er kurz auf die Umstände ihrer Entstehung ein: Ein Teil von Hildesheimers Familie habe das Projekt unterstützt, ein anderer sei ihm zurückhaltend, wenn nicht ablehnend gegenüber gestanden, und auch das Verhältnis zu Hildesheimers Witwe sei nicht ganz einfach gewesen. Wobei Jehles Beziehung zu Hildesheimer und dessen Familie keineswegs nur durch literarisches Interesse bestimmt ist – zu Lebzeiten Wolfgang Hildesheimers waren die beiden Schriftseller befreundet; als Jehle heiratete, war Hildesheimer sein Trauzeuge. Jehle hat von 1982 bis 1993 das Hildesheimer-Archiv aufgebaut und geleitet, das seit 1993 im Archiv der Akademie der Künste in Berlin untergebracht ist.

Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen

Wolfgang Hildesheimer lebte zwischen 1937 und 1962 in England, Palästina, Deutschland und der Schweiz; in dieser Zeit schrieb er insgesamt 507 Briefe an seine Eltern in Palästina, wohin die Familie Anfang der 1930er emigriert war. Ursprünglich war die bildende Kunst sein Standbein; von 1937 bis 1939 hatte er in London Malerei und Grafik studiert und Bühnenbilder entworfen. Nach dem Krieg war er Gerichtsdolmetscher bei den Nürnberger Prozessen; 1950 begann er eher zufällig zu Schreiben, nur fünf Jahre später inszenierte der große Gustav Gründgens sein Erstlingsdrama. Seit 1957 lebte Hildesheimer in Poschiavo im Schweizer Kanton Graubünden.

Der Briefwechsel mit den Eltern, später nur noch der Mutter endet 1962 mit deren Tod. Die Briefe begannen stets mit der Anrede "Liebe Leute" und schlossen mit "Gruß Wolf"; einer der frühesten von denen, die Jehle vorstellte, entstand im August 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Hildesheimer sah ihn kommen: "Obwohl die unmittelbare Gefahr im Augenblick nicht so stark ist, muss es doch bald losgehen. Und es ist auch gut so, denn so kann es ja nicht mehr weiter gehen." Einer der wenigen Briefe, die Hildesheimer innerhalb von Palästina verschickte, handelt von den spanischen Stiefeln, in denen sich der junge Maler als Reklamezeichner wiederfand, ein anderer, im April 1947 in Nürnberg verfasst, beschreibt die Larmoyanz der besiegten Deutschen, die sich nur als Opfer sehen: "Die Deutschen sind ein trauriges Kapitel [...] Gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen ist dadurch beschwert, dass sie sich so entsetzlich leid tun, was in so unwürdiger Weise zu Tage tritt, dass man sich beschämt fühlt, dass man nicht selbst den Krieg angezettelt hat."

Der letzte Brief des Abends entstand am 25. Januar 1950 im oberbayerischen Ambach und schildert eine Situation, über deren Bedeutung sich der Schreiber damals vermutlich selber nicht ganz im Klaren war: den Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn. "Gestern hat mich die Kälte zum Jugenddichter gemacht, denn es war im Atelier so kalt, dass ich am Fenster nicht arbeiten konnte, aber am Ofen ist es nicht hell genug, und so schrieb ich stattdessen eine Geschichte für Kinder, die sehr schön geworden ist." Die antike Literatur kennt den Topos der Dichterweihe; hier hat Wolfgang Hildesheimer, ohne es zu ahnen, seine beschrieben. Der Schriftsteller war geboren – und die Lesung zu Ende.