Versiegelt: Die Wohnung in Tailfingen, wo der tödliche Streit in der Neujahrsnacht 2015 zwischen zwei Brüdern geschah. Der Prozess hat am Dienstag begonnen. Foto: Eyrich

Prozessauftakt in Hechingen: Albstädter räumt Tat in Silvesternacht ein, aber Schilderung deckt sich nicht mit Spuren.

Albstadt/Hechingen - Der am Ende tödliche Streit zwischen zwei Brüdern aus Albstadt wird seit Dienstag vor dem Landgericht Hechingen juristisch aufgerollt. Es wird, so viel steht fest, ein kompliziertes Verfahren: Der genaue Ablauf der Tat in der Neujahrsnacht 2015 muss von der Schwurgerichtskammer unter Vorsitz von Richter Anderer hart erarbeitet werden.

So räumte der Angeklagte, ein heute 52 Jahre alter Mann, zum Prozessauftakt zwar ein, seinen älteren Bruder durch Messerstiche getötet zu haben. Allerdings deckt sich seine Aussage nicht mit den Spuren, die die Kriminaltechniker am Tatort in der Straße Am Markt in Tailfingen gesichert haben. Möglicherweise, das macht die Rekonstruktion ebenfalls schwierig, hat der Angeklagte gewisse Erinnerungslücken, die zum einen auf seine lange Sucht- und Drogengeschichte zurückgeführt werden, zum anderen aber auch Folge der Verletzungen sein könnten, die ihm sein Bruder bei dem Streit in der Neujahrsnacht zugefügt hat.

Fest steht: Die beiden Brüder hatten den Silvestertag zusammen verbracht, zunächst mit Freunden in einer Waldhütte nahe Pfeffingen. Es wurde Würfel gespielt und getrunken. Abends war man zusammen in einer Kneipe in Tailfingen. Mit dabei war auch die Freundin des Angeklagten. In der Kneipe kam es kurz nach dem Jahreswechsel gegen 0.15 Uhr zum Streit. Der jüngere Bruder verließ die Lokalität, ging nach Hause und wollte seinen Bruder und dessen Lebensgefährtin in dieser Nacht nicht mehr sehen.

Sie folgten ihm trotzdem später nach, weil der Bruder seine Autoschlüssel in der Wohnung liegengelassen hatte. Während der Suche im Wohnzimmer sei sein Bruder dann plötzlich, "wie aus dem Nichts", auf ihn losgegangen, sagte der Angeklagte vor Gericht, habe ihn überrannt, zu Boden gedrückt, ihn festgehalten und mit den Fäusten 20 bis 30 Mal auf den Kopf eingeschlagen. Nachdem er sich aus der Umklammerung befreit habe, habe er zwei Messer in die Hand genommen, die auf dem Fernseher deponiert waren, und seinen Bruder zunächst gewarnt: "Hau’ jetzt ab."

Als dieser ihn erneut geschlagen habe, habe er, jeweils ein Messer in jeder Hand, zugestochen. Daraufhin packte der Ältere den Jüngeren am Kragen – "und dann habe ich noch ein zweites Mal zugestochen." Der Bruder sei sodann, schwer verletzt durch die insgesamt vier Stiche (drei davon potentiell tödlich), durch den Flur gegangen, im Nebenraum zusammengebrochen und leblos liegengeblieben. Er habe den Notarzt gerufen, so der Angeklagte. Laut Anklage soll der 52-Jährige zudem seine Lebensgefährtin noch verletzt haben; dies bestreitet er aber, kann sich nicht daran erinnern.

Anhand der Spuren am Tatort, so Richter Anderer, ist auch ein anderer Tatverlauf denkbar. So finden sich laut Gutachten im Wohnzimmer keine Blutspuren des getöteten Bruders, nur im Nebenraum. Denkbar wäre es, so Anderer, dass der Angeklagte seinen Bruder also erst dann mit den Messern – das eine hatte eine Klingenlänge von 17,5 Zentimetern, das andere von 13,5 Zentimetern – attackierte, als dieser sich bereits entfernt hatte.

Für die Würdigung der Tat bedeute das einen gewichtigen Unterschied: Angeklagt ist der Mann wegen Totschlags, seiner Schilderung nach wäre es möglicherweise ein minderschwerer Fall, weil er sich direkt nach dem Angriff des Bruders zur Wehr setzte – wenn auch mit sehr unverhältnismäßigen Mitteln. Der Angeklagte sagte gestern, er habe um sein Leben gefürchtet, als sein Bruder ihn verdroschen habe.

Deutlich wurde zum Prozessauftakt zudem, dass zwischen den beiden Brüdern schon lange eine Art Hassliebe bestand und dass es zwischen den beiden immer wieder zu Gewalt gekommen war. Ebenfalls deutlich wurde der gänzlich andere Lebenslauf: Während der ältere nach der Ausbildung zum Metzger den elterlichen Betrieb in Tailfingen übernahm, heiratete, Kinder bekam und also zunächst ein gutbürgerliches Leben lebte, ehe die Trennung von der ersten Ehefrau ihn nachhaltig erschütterte, wollte sich der Jüngere an keine der gesellschaftsüblichen Konventionen halten. Auch er absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Metzger, wechselte anschließend aber oft den Arbeitsplatz, ging keine festen Beziehungen ein – und wurde drogensüchtig. Über Jahre konsumierte er Heroin, kiffte seit Bundeswehrzeiten, trank viel Alkohol. Das brachte ihn regelmäßig mit dem Gesetz in Konflikt, viele Male saß er im Gefängnis. Versuche, von den Drogen loszukommen, scheiterten – auch deshalb, so Richter Anderer kritisch, weil es seine Kollegen und Gutachter offenbar mehrmals versäumt haben, den Mann trotz der dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen zwangsweise in Therapie zu schicken.

Nach einer Haftstrafe, die der Angeklagte bis März 2014 wegen Drogen verbüßen musste, rauften sich die beiden Brüder offenbar wieder zusammen. Das sei "eine stabile Zeit" gewesen, sagte der 52-Jährige vor Gericht, man habe sich nur noch selten gezofft, habe versucht, Streit zu vermeiden. Der ältere Bruder habe ihm einen Job bei einer Metzgerei in Mössingen besorgt; Kollegen beschrieben das Verhältnis der beiden als harmonisch. Warum es zu dem tödlichen Streit in der Neujahrsnacht gekommen sei, könne er sich nicht erklären, sagt der Angeklagte.

Die Verhandlung wird am Donnerstag, 2. Juli, 8.30 Uhr, vor dem Landgericht Hechingen fortgesetzt.